„Und wir wollen so schön werden wie diese tanzende, jubilierende Frau, die unseren Kontinent bildet“, ergänzte Traula. „Könnt ihr uns dabei behilflich sein?“
„Wie sollten wir das?“, fragte Kuno Weißhaar verwundert und misstrauisch, als vermute er eine Falle. „Wenn wir dazu ein Rezept wüssten, wären auch wir Kunos sicher keine Kunos mehr.“
„Es gibt da eine Möglichkeit. Es geht um die Frage, was entsteht, wenn die sieben Strahlen des Lebens vereinigt werden.“
„Die sieben Strahlen des Lebens?“, murmelte Äffchen. „Das habe ich doch irgendwo schon einmal gehört!“
„Würde mich wundern, wenn dem so wäre“, erwiderte Traula. „Davon wissen nur die höchsten Eingeweihten. Der Fairness halber stellen wir so etwas nicht als Rätselfrage. Dieses Geheimnis ist selbst dem Volk der Kyruppen verborgen geblieben. Nur wir Anführerinnen haben Kenntnis davon. Wir selbst wurden von unsren Vorgängerinnen darin eingeweiht.“
„Und doch kommt es mir irgendwie bekannt vor“, sagte Äffchen. „Ich habe es bestimmt schon irgendwo gehört.“
„Jedenfalls“, fuhr Traula fort, „habt ihr die Kenntnis, die Intelligenz und den Mut, die erforderlich sind, um die sieben Strahlen des Lebens zu entdecken. Wenn ihr sie entdeckt habt, wenn ihr das Geheimnis erfahren habt, wie man sie herstellen kann, dann kommt zu uns und wir werden euch eine Linse geben, mit der ihr sie sammeln könnt. Dann werden wir gemeinsam unsere Vollendung finden.“
Die Freunde folgten den goldenen Drei und wurden von ihnen in eine Stadt geführt. Solch eine Stadt hatten sie noch nie gesehen. Die Gebäude sahen aus, als seien sie aus Bäumen geflochten, deren Äste sich spiralförmig emporwanden. Kein Haus war völlig in sich abgeschlossen. Kein Turm hatte ein Dach oder war völlig vom Regen geschützt.
„Was ist das?“, fragte der kleine Idan.
„Das ist Trodonk, die große Donnerstadt, Hauptstadt des großen Kyruppenreiches“, erwiderte Traula. „Wir haben einige Hundert solcher Städte, aber Trodonk ist die größte.“
„Warum heißt sie denn Donnerstadt?“, wollte der kleine Idan wissen.
„Blick nach oben!“, forderte Traula. „Was siehst du?“
Idan folgte der Aufforderung. Er sah, wie sich hoch über ihnen der Himmel in drohenden Gewitterwolken zusammenballte. Die Wolken waren fast schwarz. Und dazwischen lagen helle, gleißende Stellen freien Himmels, die wie Blitze zwischen ihnen aufzuckten.
„Das ist der Grund“, fuhr Traula fort. „Trodonk ist so gebaut, dass sie Gewitterwolken anzieht und es regnen lässt.“
„Aber eure Häuser haben keine Dächer“, sagte Idan. „Sie sind überhaupt nicht dicht!“
„Es ist nicht die Nässe, die wir fürchten. Das Wasser perlt von unserem Panzer ab. Es ist die Trockenheit. Unsere Türme laden die Atmosphäre auf. Sie erzeugen Elektrizität. Und diese brauchen wir genauso wie die Feuchtigkeit.“
Tausende Kyruppen standen zu beiden Seiten der Straße und grüßten die Freunde.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Idan.
„Das bedeutet, dass ihr die Ersten seid, die das Rätselraten überlebt haben.“
Bei diesen Worten taumelte der kleine Idan und drohte zu stürzen. Erst jetzt wurde ihm so recht bewusst, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Und vor Entsetzen darüber wurde er ohnmächtig.
Die Donnerstadt
Der kleine Idan erwachte in einem durchlichteten Gebäude, dessen Wände aus metallenen Ranken bestanden. Der Abend dämmerte und ein rötlich glühender Feuerschein floss über den mit Holztafeln belegten Fußboden. Idan bemerkte, dass es ein erst kürzlich hergestellter Boden war, den die Kyruppen für ihre Gäste eigens bereitet hatten. Sie selber brauchten keinen solchen Boden. Man sah es daran, dass Holzscheiben in die Maschen eines starren Metallnetzes hineingetrieben worden waren. Erfinder-Äffchen und Kuno Weißhaar unterhielten sich mit einer Gruppe Kyruppen. Sie saßen um ein maschenartiges Metallgestell, das einem Tisch glich.
„Was ist eure Hauptbeschäftigung?“, fragte Erfinder-Äffchen gerade.
„Wir stellen Linsen her“, erwiderten die Kyruppen mit hohen singenden Stimmen.
„Und was macht ihr mit den Linsen?“
„Mit diesen Linsen brechen wir das Licht auf eine Weise, dass wir verschiedene Arten der Wirklichkeit sehen können, und zwar auch das, was unseren Augen normalerweise unsichtbar ist.“
„Was könnt ihr denn damit sehen?“, fragte Idan.
„Schau einmal selbst hindurch!“, forderte ihn Traula auf und hielt ihm eine Linse hin, die im Sonnenlicht die Farbe des Regenbogens spiegelte. „Du musst sie dicht vor das Auge halten“, sagte die Kyruppe. „Das andere Auge kneife am besten zu.“
Der kleine Idan folgte der Aufforderung und sah die ganze Umgebung von farbigem Licht durchflutet. Die Personen, die sich im Raum befanden, waren von einem farbigen Lichtkranz umgeben. Der Lichtkranz der Kyruppen war orange bis hellrot, der Lichtkranz von Äffchen gelbgrün und der von Kuno Weißhaar blau bis violett.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Idan.
„Das ist eine Linse, die die Farben der Seele bricht“, erwiderte Traula. „Wenn wir sie als Brille tragen, erkennen wir, mit wem wir es zu tun haben.
„Und was bedeuten die Farben?“
„Rot ist die Farbe der Kraft, der Öffnung, des Anfangs, des festen Willens, des Zorns und der Leidenschaft. Ohne Rot gibt es keine Urkraft. Gelb ist die Farbe der Zündung und des durchdringenden Verstandes. Ohne Gelb gibt es keine Zeugung. Grün ist die Farbe der Gärung und Hoffnung. Ohne Grün gibt es kein Gedeihen. Blau ist die Farbe der Weisheit und der Geduld. Ohne Blau gibt es weder Ziel noch Ruhe. Violett ist die Farbe der Vollendung. Zwischen diesen Farben gibt es zahlreiche Zwischentöne und Schattierungen, die der einen oder anderen benachbarten Farbe zuneigen. Daneben gibt es auch noch unreine Farben in der Gestalt der vielen Braun- und Grautöne. Solche Farben entlarven eine verschattete Seele.“
„Aber ich dachte immer, dass es sieben verschiedene Grundfarben gibt“, sagte Erfinder-Äffchen, „und nicht nur fünf.“
„Wir unterscheiden fünf Grundfarben“, sagten die Kyruppen. „Alles andere ist in unseren Augen Willkür und entbehrlich.“
„Quatsch Grundfarben“, rief Kuno Weißhaar. „Es gibt viele Millionen Farben. Und jede Farbe ist anders und unvergleichlich! Jede hat ihre besondere Eigenschaft. Wenn wir Kunos einander Namen geben, dann schauen wir auf die Haarfarbe. Wir benennen jeden nach seiner Haarfarbe und schreiben ihm dadurch eine bestimmte Eigenschaft zu. Das ist meistens nicht gerecht. Besonders ich bin dabei schlecht weggekommen. Ausgerechnet weiß! Das ist ja überhaupt keine Farbe!“
„Wir kennen gar kein reines, ungetrübtes Weiß“, versetzte Gran.
„Wir auch nicht“, sagte der Kuno. „Aber wenn den Haaren die Pigmente fehlen, sind sie weiß. Und Kunohaare ohne Pigmente sind immer gleich weiß. Es ist eben das spezifische Weiß von Kunohaaren ohne Pigmente. Sie können in der Sonne ein wenig gilben, das ist aber schon alles! Und leider bin ich der einzige Kuno, dessen Haare keine Pigmente haben. Ich bin eben eine Missgeburt!“
„Bist du nicht“, sagte der kleine Idan. „Dein Lichtkranz ist blau.“
„Tatsächlich? Welches Blau? Gib mir die Linse!“
Idan reichte sie ihm. „Aber du kannst dich doch nicht selber sehen!“ wandte er ein.
„Meinst du wohl? Ich kann meinen Arm ausstrecken. Dann sehe ich mich!“ Das wollte er tun, aber der Arm war zu kurz. „Oder ich kann mich im Spiegel ansehen“, ergänzte er. „Habt ihr einen Spiegel?“, wandte er sich an die Kyruppen.
Goa reichte ihm aus einem Fach einen ovalen Handspiegel aus blankem Metall. Kuno Weißhaar blickte hinein und bewunderte seinen Strahlenkranz.
„Wunderbar!“ rief er aus. „Das ist Hyazinth-Awara! Eine ganz seltene Farbe! Kommt in der Natur nicht vor! Nur an lichtreflektierenden Metallflächen! Kuno Hyazinth-Awara müsste ich mich nennen! Könnt ihr mir die Herstellungsanleitung für diese Linse verraten? Ich werde in ganz Rüsselschwein solche Linsen herstellen lassen. Künftig sollen alle Kunos nur noch nach ihren Farbenkränzen benannt werden!“
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