Über dieses Buch
«Der Stammbaum»: Anhand der eigenen Familie erzählt Bianconi vom Schicksal der Bewohner des kleinen Tessiner Bergdorfs Mergoscia. Als er im März 1966 in das fast verlassene Dorf hochsteigt, findet er zerfallende Mauern und darin eine Truhe mit Dokumenten, Verträgen und vor allem Briefen. Briefe von jungen Tessinern, die seit dem 19. Jahrhundert ausgezogen waren, um anderswo das Glück zu finden, angezogen von den magischen Namen Australien und Kalifornien, von der Hoffnung auf Gold und Wohlstand.
Kaum einer fand das Glück, viele kamen zurück. Aber die warnenden und beschwörenden Berichte der Heimgekehrten verhinderten nicht, dass die nächste Generation wieder aus der Armut und Kargheit ihrer Dörfer floh, um das Abenteuer zu suchen.
Bianconis Vorfahren waren allesamt brillante Briefeschreiber, ob sie nun Kleinigkeiten über den Ozean austauschten, sich Ratschläge erteilten oder bittere Vorwürfe machten. Es entsteht ein ungemein plastisches und präzises Bild des Lebens der Auswanderer wie des Bergdorfs: ein faszinierender Blick in die Geschichte des Verzascatals.
Foto Alberto Flammer
Piero Bianconi (1899–1984), geboren in Mergoscia, war ein Tessiner Schriftsteller. Bianconi galt als Nestor der Tessiner Autoren. Er bildete sich zum Primarlehrer aus und promovierte später an der Universität in Fribourg in französischer Literatur. Bevor er ins Tessin zurückkehrte, verbrachte er kurze Zeit in Florenz und Rom. Nebst einem reichen Prosawerk verfasste er auch zahlreiche kunstgeschichtliche Texte und arbeitete als Übersetzer. Bianconi starb 1984 an den Folgen eines Autounfalls in Minusio.
Piero Bianconi
Der Stammbaum
Chronik einer Tessiner Familie
Nachwort von Renato Martinoni
Aus dem Italienischen von Hannelise Hinderberger
Limmat Verlag
Zürich
Quel contentement me seroit ce d’ouir ainsi quelqu’un qui me recitast les meurs, le visage, la contenance, les parolles communes et les fortunes de mes ancestres! Combien j’y serois attentif!
Montaigne, Essais, II, 18
… dans toute la durée du temps de grandes lames de fond soulèvent, des profondeurs des âges, les mêmes colères, les mêmes tristesses, les mêmes bravoures, les mêmes manies à travers les générations superposées …
m. proust, Le Temps retrouvé
Maria Angela und Giacomo Rusconi, Barbarossa genannt
Maria Angela, Margherita und Battista Rusconi
Giuseppe, Maria Orsola Campini, Mutter von Barbarossa, Angelica und Gottardo Rusconi
Der Pass von Barbarossa aus dem Jahre 1867
Der erste Brief von Barbarossa, 17. Juli 1867
Anna und Maria Mansueta Rusconi
Gottardo, Giacomo und Anna Rusconi
Brief von Angelica Rusconi, 4. August 1889
Giovanni Battista Rusconi jr. auf der Ranch von James Campini in Placerville, Kalifornien
Juni 1965
Ich bin mit meinem Sohn, dem Geologen, in der Junihitze zum untern Verzascatal hinaufgestiegen. Die Talsperre ist fast beendet. Es herrscht intensiver Arbeitseifer und Werklärm. Antennen, Krane, Silos. Zement und zerkleinertes Berggestein bilden die grosse, gewalttätige Mauer, die das Tal absperrt. Auf dem tadellosen doppelten Bogen wimmelt es von Arbeitern wie von Ameisen. Mit dem Rauschen geölter Räder transportieren die Schiebekarren die letzten Betonladungen.
Wir gehen auf der Staumauer. Grauer Zement, aus dem da und dort Eisenstücke hervorragen. Sie bilden das Skelett dieses steinernen Organismus, der nicht tot und starr, sondern – wie mir Filippo erklärt – elastisch, vibrierend, kurz: lebendig ist. Es herrscht Weltuntergangsstimmung: ein rasend schnelles und doch geregeltes, fast ruhiges Hin und Her, das seinen eigenen Zauber hat. Von der mächtigen Mauer gestaut, steigt das Wasser und verschlingt ganz langsam abschüssige Böschungen, Felder und Ställe, überschwemmt eine Welt undenklicher, namenloser Mühsal, um Energie, Wärme und Licht hervorzubringen. Ich betrachte mit verwirrten, fast bestürzten Blicken dieses riesige Unternehmen. Mein Sohn Filippo sitzt auf der Erde und prüft mit erfahrenem Geologenauge die «Karotten», die aus den Eingeweiden des Berges herausgezogenen Bohrkerne. Er prüft ihre Dichtigkeit, die Kohärenz, den möglichen Widerstand, den das Werk dem ungeheuren Druck entgegensetzt. Er gehört dieser Welt an, die auf ihre Art verzaubernd ist, dieser Welt, die ich mit Misstrauen betrachte, einem Misstrauen, das gleichsam von Entsetzen durchzogen ist. Es ist eine Welt, weit entfernt von meinen Interessen, meinem Verständnis. Die Raumforschung und die Eroberung des Mondes berühren mich nicht sehr stark. Dies sind Dinge, denen ich eine vielleicht verblüffte, doch kühle, abstrakte Bewunderung zolle. Mir scheint, ich lese in den Blicken der Techniker und Arbeiter die Antwort auf mein Misstrauen; sie sind kalt, vielleicht ein bisschen ironisch.
Ich betrachte das gleichmütige Wasser, das immer höher steigt, die Wolken, die sich in den schmutzigen Fluten spiegeln, wie die fernen Häuser von Vogorno, jene Häuser, die stehenbleiben, und jene andern, die dazu verurteilt sind, zu verschwinden. Ein leiser Windhauch kräuselt die Oberfläche des Sees ein wenig und zersplittert die weissen Wolken, zerstreut sie wie auf einem impressionistischen Gemälde. Es heisst, es seien Millionen von Kubikmetern, ich weiss nicht, wie viele Millionen. Aber wenn ich mir überlege, dass ein Kubikmeter tausend Liter enthält und dass man mit einem Liter zehn redliche Gläser füllt – dann werden für mich, der ich nach Gläsern rechne, die Dinge verteufelt unverständlich, ich finde mich nicht mehr zurecht, ich fühle, wie mir schwindelt …
Auf der alten Strasse, die morgen unter Wasser liegt, spaziere ich allein nach Vogorno weiter. Es werden dort bald nur noch Forellen schwimmen, vielleicht ein wenig betäubt von all dem Neuen. Ich bleibe jenseits des Wassers vor den einsamen Häusern von Tropino stehen; eine Handvoll Ställe, die von der Zeit und dem Elend schwarz geworden sind. (Einst aber war der Weiler bedeutend und dicht besiedelt. Er wird schon in einem Dokument aus dem Jahre 1411 erwähnt, in dem die Gemeinde Mergoscia einen Guillermuzetum ermächtigte, die Unterwerfung unter den Herzog von Savoyen zu vollziehen. In dem Dokument werden die Bewohner von Mergoscia von denen von Tropino unterschieden.) In einem jener Ställe, die sich im Wasser spiegeln, wurde vor mehr als einem Jahrhundert meine Mutter geboren. Ich weiss nicht, war es in dem jetzt noch unberührten oder in dem schon des Daches beraubten, oder in dem, den eben jetzt die Fluten bespülen. Und sie wurde dort unter Verhältnissen geboren, die man nicht zu schildern wagt, denn niemand würde einem glauben.
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