«Da es Pflicht eines guten Katholiken ist, immer auf den Tod vorbereitet zu sein … und da Francesco, der Sohn des Giacomo Ruscone von Mergoscia, im Kirchenspiel Locarno und der Diözese Como dies gut begriff, hat er es vor seiner Abreise nach Frankreich … für richtig erachtet, sein Testament zu machen.» Nachdem er an seine Seele gedacht hat, erklärt er, falls er sterben müsse, sei seine Witwe Angiola Maria «Frau und alleinige Meisterin seiner ganzen Habe, wie sie auch immer sei …» Doch müsse sie die Witwentracht tragen, als ehrbare Frau leben und in ihrem eigenen Hause mit ihren Kindern wohnen bleiben. Und so weiter, zwei dicht beschriebene Seiten in der winzigen Schrift des stellvertretenden Pfarrers, ein minutiöses Verzeichnis der Rechte und Pflichten der Überlebenden: Der Vormundschaft über die Kinder, sowohl im Fall, da sich die Witwe wieder verheirate, wie auch im Fall ihres Todes. Jede Möglichkeit war vorgesehen und geordnet. Und das Ganze war mit der Unterschrift des Priesters, dreier Zeugen und des Erblassers rechtsgültig versehen. «Ich, Francesco Ruscone, bestätige das Obenstehende», steht dort in dicken und plumpen Druckbuchstaben. Dazu gehört ein Empfehlungsbrief des Priesters Giovannoni, der besagt, Rusconi sei ein Mann von guten Sitten, ein echter Katholik, klein gewachsen, blond, mager und ein Stotterer; und er gehe «ad artem suam vitrarij exercendam in Gallia».
Ausser dem Battistino, den im Jahre 1778 jenes akute Fieber gepackt hatte, besass Francesco Rusconi noch einen andern, im Jahre 1783 geborenen, jüngeren Sohn, Giuseppe. Dieser war somit kurz vor des Vaters Abreise nach Frankreich zur Welt gekommen, und muss irgendwie das schwarze Schaf der Familie gewesen sein, ein Tunichtgut, wie man damals sagte und auch heute noch sagt, «immer und wie gewohnt ein Tölpel», sagt ein Enkel im Jahre 1840 von ihm. Anno 1807 liess er sich auf Kosten der Gemeinde Sorengo «unter die Fahnen seiner kaiserlichen Majestät Napoleon, des Kaisers der Franzosen und Königs von Italien» anwerben, wie aus einer rechtsgültigen Akte hervorgeht, die ihn für vier Jahre verpflichtete. Doch hatte anscheinend die Sache keine Folgen. Er hielt sich im Wallis, in Sierre und in Sion auf. Die Gattin hatte er zu Hause gelassen. Er betätigte sich als Kaminfeger und in wer weiss was für anderen Berufen …
Von einem seiner Briefe an den Bruder lohnt es sich, die Adresse wiederzugeben: «Über briggo und über dom dossela und über intra und canobio und locarno zuhanden von Gian Battista Ruscone aus Mergoscia.» Und eine andere «Adresse» einer nach Frankreich gesandten Botschaft lautet: «Signor Francesco Roscone Lucerna Onenhc (?) über Paris nach Cambre in Flandern Absteigequartier Breguzon in der Gegend der Glaser.» Wie solche Briefe zugestellt werden konnten, ist für uns, die wir nun an «Postleitzahlen» gewöhnt sind, schwierig zu verstehen …
Ein Enkel des Francesco und Sohn des Battista Rusconi ist Gottardo, der noch jung, im Jahre 1833, dem Jahr der von der Gemeinde besorgten Inventur, sterben musste. In der Inventur ist das armselige Hausgerät in einem dem Italienischen nachgebildeten Dialekt aufgeführt: «Eine Kufe, zwei Töpfe, ein Weinfass, ein Kessel, eine Schüssel, drei Wärmepfannen, eine Kupferpfanne, ein Butterfass und ein Weinmass, zwei Holzschemel fürs Wasser, zwei Beile, zwei Hippen, ein eiserner Hammer und eine Hacke, eine Schaufel, eine Heu- oder Mistgabel», und so weiter, mit dem Haus, den Ställen in den verschiedensten Gegenden und Hügeln, die Wiesen, die Wälder, die Bäume.
(Man bedenke: Wenn der frühzeitige Tod des Vaters das Haus betrübt zurückliess, so gehörte dazu auch die gewohnte und in ihrer Art barbarisch grossartige Zeremonie der Totenwache. Im Haus des Toten vereinigten sich die Leute – Requiems und Rosenkränze, die dann sachte in Scherze und Witze hinüberglitten. Man ergab sich dem Trinken und dem übermässigen Schlemmen, bis alle Vorräte ratzekahl aufgegessen waren. Man schnitt wohl gar der einzigen Ziege die Kehle durch und prasste in rauen Mengen. Man feierte das Leben neben dem Toten, der in seinem Sarg ausgestreckt dalag.)
Gottardo Rusconi starb 1833 und hinterliess eine trostlose Witwe mit einer Tochter und zwei Söhnen. Giacomo (mein Grossvater) wurde 1831 geboren, sein Bruder Battista ein Jahr später. Dieser sollte in Australien sterben. Überall herrschte Elend. Und nur Gott kennt die Leiden der armen Frau, die das Haus weiterführen und die Kinder erziehen musste. Die beiden Söhne mussten, noch als Knaben, der Tradition folgen. Sie zogen in die Lombardei und ins Piemont hinab, um Kamine zu fegen. Zunächst waren sie von Meistern in Intragna abhängig. Ich erinnere mich, mit welch zornigem Ingrimm mein Grossvater von den «Intragnoni» sprach, die gegen Ende Herbst durch die Täler zogen, um Knaben anzuheuern. So wie die Schlächter vor Ostern Zicklein sammelten. (Ganze Karren voll Zicklein zogen am Haus vorbei. Den armen Tieren waren die Hinterbeine zusammengebunden, und sie hingen mit dem Kopf nach unten an einer Stange. Blut tropfte in den Strassenstaub. Und immer, wenn man von Zicklein, auch von gebratenen, spricht, kommt mir das harte Dasein der elenden «schwarzen Engel» in den Sinn, die in der Lombardei und im Piemont den Russ der Kamine schlucken mussten.)
Doch nachdem der Grossvater Gehilfe gewesen war, wurde er Meister. Denn in zwei Pässen, von 1851 und von 1852, ist angeführt, Giacomo Rusconi «begibt sich ins Piemont und in die Lombardei, um sein Handwerk auszuüben», das heisst, um als Kaminfeger tätig zu sein. Und er hat «einen Knaben von acht Jahren bei sich». Er muss ohne den Bruder Battista dorthingezogen sein, denn diesem wird im selben Jahr 1851 eine Reiseerlaubnis von Porlezza «über die Grenze bei Oria» zugestanden. Doch aus dem Jahr 1853 sind zwei Pässe für die beiden Brüder, ohne Begleitung, erhalten. Wie gewohnt zogen sie als Kaminfeger nach der Lombardei und dem Piemont. (Diese grossformatigen Pässe tragen das Bild eines albernen Wilhelm Tell, mit dem Sohn und dem Apfel. Tell ist wie ein Landsknecht gekleidet, mit mächtigen Federn geschmückt und hält das Kantonswappen. Die Pässe tragen die Unterschrift des Advokaten g. b. Pioda, des Staatssekretärs.) Vom ersten Tag des Jahres 1853 stammt ein Brief der beiden Brüder an die Mutter, datiert aus «Pieve del Cajero» (das heisst: Pieve del Cairo, Lomellina). Dieser Brief besagt:
«Wir haben keinen Schnee und es ist nicht kalt. Das Wetter ist mild und neblig. Das Dasein verläuft wie gewohnt. Der Wein ist sehr karg zubemessen. Wir werden vom 20. März an wieder zu Hause sein. Weiteres kann ich Euch nicht sagen, als dass ich Euch liebe und von Herzen grüsse und Lebewohl sage. Wir sind Eure Söhne Giacomo und Battista Rusconi.»
Es ist nicht schwer zu verstehen, dass sich hinter diesem «das Dasein verläuft wie gewohnt» magere Rationen verbargen, die zu den Anstrengungen und dem Appetit der beiden Jungen in grobem Missverhältnis standen. Es ist auch nicht schwer zu verstehen, was die Kargheit des Weins bedeutet, bei dem Russ, der die Kehlen rau macht und austrocknet … Ein Jahr später legte Battista die Raspel beiseite, schnürte sein Bündel und reiste dem Gold Australiens entgegen.
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