Ich stehe da und suche ein Zeichen aus früheren Zeiten, einen Hinweis, der mir die erschreckende Last der Vererbung erklärte, diesen Wirrwarr aus Müdigkeit und Kraft, aus Kühnheit und Zaghaftigkeit, aus Bosheit und untätiger Güte, die mein Wesen ausmachen. Ich suche etwas, das mir erklärte, weshalb ich auf den Schultern so etwas wie eine unendliche, auf der Spitze stehende Pyramide von Menschen zu tragen meine: Eltern, Grosseltern, Urgrosseltern, Vorfahren ohne Antlitz, eine ganze anonyme Masse. Und weshalb ich ein erdrückendes Gewicht verspüre, körperliche und geistige Lasten, lang vergangene Falten und Wunden, die ich nicht beseitigen kann. Es ist ein Eindruck, der mit den Jahren immer stärker wird. Die oberflächlichen Anwandlungen, der dünne Firnis der Erziehung und Erfahrung, die weniger wesentlich sind, als man glauben möchte, verschwinden. Etwas Tieferes und Wahreres enthüllt sich. Eine geheime Schichtenbildung, fast so etwas wie eine moralische Geologie, kommt zum Vorschein. Wiederum müssen Schmerzen erlitten werden, die unheilbar bleiben, weil sie alt und anonym sind, und ebenso Demütigungen, Leiden und Mühsale. Wiederum müssen die Knochen alle Müdigkeiten der Ahnen erfahren. Und es gibt keine Ruhe, die sie stillen könnte. Sie sind im Blut, zuinnerst im Fleisch.
In den Häusern der Bianconi, der Grosseltern väterlicherseits, ist nichts mehr vorhanden, weder Papiere noch irgendein anderer Hinweis oder ein Schriftstück. Die Häuser sind veräussert worden. Alles ist zerstört. Die wenigen Papiere wurden von fremden Händen dem Feuer überantwortet.
Als Knaben gingen wir oft unsere Tante Nina besuchen, die dort allein lebte. Sie war klein, ein wenig verkrümmt, wachsgelb und hatte einen einzigen grossen blanken Zahn im Mund. Sie allein war übrig geblieben, um den Herd zu hüten. Über dem Feuer stand andauernd der bronzene Kaffeetopf. Und dort flüsterte sie ihre Requiem eterna und ihre Gebete für die Lebenden und Toten und räusperte sich und spann dabei – arm und gütig wie sie war – ihren Rocken leer. Sie erzählte, als ihre Mutter (die Grossmutter Mariorsola, wir nannten sie MammarÌa, und ein Bildnis von ihr hält meine Erinnerung an sie wach) im Sterben lag, hätte sie sie gebeten, ihr eine Erinnerung zurückzulassen, ein Wort, einen Ratschlag, eine Lebensregel. «Tu allen Leuten Gutes!», sagte die Grossmutter zu ihr. Und nach einer Weile, als sie sie nochmals um dasselbe bat, erhielt sie die gleiche Antwort: «Tu allen Leuten Gutes!» Und das tat sie denn auch immer. Selber arm und elend, fand sie Mittel und Wege, denen, die noch elender waren, mit ihrer stets kräftigen Mildtätigkeit zu helfen: mit einer Schüssel voll Minestra, ein wenig Brot, einem guten Wort. Sie hatte sich, wer weiss unter wie viel Entbehrungen, dreissig Franken gespart, drei halbe Taler, um sich ein Kleid schneidern zu können. Dann aber gab sie sie dem Pfarrer, damit er sie nach Indien sende und den Hunger der Ärmsten dort drüben stille …
Sie trug noch die alte Tracht, den Rock und die Schürze dicht unter der Brust gegürtet, und das kurze Mieder, das sich über dem Weiss des aus Hanf gesponnenen Hemdes öffnete. Sie war Asthmatikerin und verbrachte ganze Sommernächte unter einem grossen Birnbaum neben dem Haus. Immer empfing sie uns voller Freude, immer hatte sie einen Apfel, eine Birne oder eine Handvoll gerösteter Kastanien für uns bereit. Sie wunderte sich nie, wenn sie uns unversehens kommen sah: «Ich wusste, dass jemand kommen würde; heute Morgen hat das Feuer gepustet!» Dort neben dem Feuer kauerte sie und hörte ihm zu und deutete es. Auch sprach sie mit den Toten und den weit entfernt Lebenden, mit den Brüdern, die sich dann und wann ihrer erinnerten. Mein Vater hielt ihr immer ein kleines Fässchen voll Wein bereit. Sie starb im Jahre 1922, als sie 68 Jahre alt war.
Auch vom Grossvater Francesco Bianconi, dem Pà Cecc, gibt es eine vergrösserte Fotografie. Eine andere Erinnerung habe ich nicht an ihn. Er starb im Jahre 1904, als ich fünf Jahre alt war. Er war 84 Jahre alt geworden. Es ist in unserer Familie zur Gewohnheit, ja, fast zur streng eingehaltenen Tradition geworden, sich spät zu verheiraten. Das dehnt und verlängert die Intervalle zwischen den Generationen und schafft erschreckend grosse Abstände … Aus dem Bildnis schaut mich ein schönes, klares, heiteres Gesicht an; der Mund ist ein bisschen ironisch, die Stirn ist hoch, und das Haar fällt lang zu beiden Seiten des Kopfes herab. Auch er hatte versucht, das Glück zu erproben, aber es war ihm nicht gelungen. Er hatte sich nach Australien eingeschifft, doch war er eiligst wieder zurückgekehrt, vielleicht sogar auf demselben Segelschiff, und hatte somit nichts nach Hause gebracht als die Schulden für die Reisespesen, die Musse langer Monate auf dem Meer und die verlorene Zeit.
Er war ein scheuer und sanfter Mensch. Als Scherenschleifer zog er durchs Land, besonders durch die Täler bei Lugano, wo bis vor einigen Jahren die Alten sich seiner noch erinnerten. Mit seinem Schleifrad schlief er in den Heuschobern und sparte sich alles vom Munde ab, um die Familie durchzubringen: jeden Becher Wein, jeden Bissen, der nicht unumgänglich nötig war. Als er dem Haus ein paar kleine Kämmerchen anbauen lassen musste, weil die Kinderzahl wuchs, mass er die Höhe der Türe und des Küchenplafonds an seiner Gestalt. Er war ein sehr kleines Männchen, und so musste man sich, wenn man eintrat, bücken, und auch drinnen konnte man nur zwischen den Deckenbalken aufrecht stehen. Aber der Tante Nina ging es dort gut, denn auch sie war klein und von den Jahren und Krankheiten bucklig geworden. Der Grossvater Bianconi war ein weiser Mann, er beschied sich mit dem wenigen, das er besass, oder war sogar zufrieden mit nichts. Er mass alles an seiner klösterlichen Genügsamkeit. Er passte den Schritt seinen Beinen an oder nahm ihn sogar noch ein bisschen kürzer, als die Beine es waren. (Was sicher nicht die beste Art ist, die Beine länger werden zu lassen.) An dieser niedern Tür kann man ein Lebensprogramm ablesen, ein fast horazisches Lebensbekenntnis, einen Sinn fürs Masshalten, der vielleicht nicht möglich ist ohne ein bisschen Egoismus. (Diese Tugend ist bei den Nachfahren nicht ganz verloren gegangen. Mein Vater hat sie geerbt und sein ganzes Leben lang wert gehalten …)
Aus dieser Tür sind mein Vater und zwei seiner Brüder herausgetreten, um nach Amerika auszuwandern. Nur der jüngste Bruder, Pietro – er soll sehr intelligent gewesen sein –, ist Lehrer geworden und zu Hause geblieben.
Aber nicht einmal von Onkel Pietro ist etwas auf uns gekommen. Nur durch Zufall ist es mir gelungen, ein schmales Heft mit der Reinschrift italienischer Aufsätze aus dem Jahre 1879/80 ausfindig zu machen. Ferner sein Lehrerdiplom vom 24. Juni 1883, das vom Direktor F. Antognini und vom Staatsrat Marino Pedrazzini unterzeichnet ist. Ein schönes Lehrpatent mit lauter Zehnern (ein Vorwort erklärt: «Die Note zehn entspricht den besten Leistungen»), und nur einer Neun (beinah höchste Leistung) in Kalligrafie und im Singen. Fürs Turnen hat er keine Note erhalten. Es heisst, er sei als Knabe von einem bösen Hund erschreckt worden; davon war er ungelenk und ein wenig bucklig geworden. Jener Rektor Antognini hatte die Brüste der Caritas, die sie ihrem Tugendamt gemäss im Refektorium des Franziskanerklosters, das zum Lehrerzimmer geworden war, einem nackten Knäblein reichte, prüde verschleiern lassen. Dieser unbedeutende Vorfall kennzeichnet das Klima der Schule, wie man es in den Aufsätzen Onkel Pietros wiederfindet. Sie sind von einer rhetorischen Unaufrichtigkeit, die einen ärgert und zugleich zum Lächeln reizt; eitle Wortspielereien. Doch bei einem der ersten Aufsätze, mit dem Titel «Stellt euch die Aufgabe, einen eurer Verwandten oder Freunde über die wenigen bisher verbrachten Schultage zu unterrichten, und fügt irgendeinen weiteren Bericht hinzu, den ihr als passend erachtet» muss man bedenken, dass mein Onkel damals fünfzehnjährig und eben erst aus seinem Bergdorf heruntergekommen war; dort liest man nämlich ein paar Sätze, die aufrichtig klingen: «Ich tue hiermit kund, dass ich dieses Jahr hier in Locarno ins kantonale Gymnasium aufgenommen wurde. Ich überlasse es dir, dir vorzustellen, wie sehr ich mich am Anfang schämte, denn keiner kannte mich, und alle schauten mich an, und ich war sehr verwirrt, als ich mich so von all den Schülern umgeben sah und keinen einzigen kannte! Dennoch fasste ich Mut und antwortete, so gut ich es konnte, auf die Fragen des Herrn Professor. Jetzt aber kenne ich meine Gefährten schon … Wir sind etwas mehr als zwanzig Schüler und haben drei Stunden Schule im Tag.»
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