Christian Caprez, geb. 1942, Sohn von Greti und Gian Caprez101
Ich war als Kind oft in den Ferien bei meinen Grosseltern Johann und Christina Caprez-Lendi in Pontresina, die ich Non und Nona nannte. Der Zvieri hiess bei Nona Afternoon Tea, mit Biskuits, englischem Kuchen und Birnenbrot. Die Butter servierte Nona in einem schönen Geschirr mit einem Buttermesser. Manchmal kam ihre Cousine aus Celerina zu Besuch, und wenn Nona ihr das Buttergeschirr über den Tisch schob, machte die Cousine mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, schob das Buttermesser zur Seite und nahm ihr eigenes Messer, um sich ein Stück Butter abzuschneiden. Nona sagte nichts, schob ihr aber Geschirr und Buttermesser noch einmal hinüber. So ging es hin und her, aber es wurde nie ein Wort gewechselt.
Zürich,
9. September 1929
Zwei Bilder. Greti trägt auf beiden ein sackartiges Kostüm, der Rock reicht bis weit über die Knie. Erst die Bildlegende102 erzählt von einem nahezu revolutionären Akt. 9. Sept. 1929 in Zürich vor dem Haarschnitt steht links, nach dem Haarschnitt rechts. Eben noch, auf dem Mühlesteg beim Hauptbahnhof, trägt sie die schwarzen Strähnen kunstvoll in einem Zopf hochgesteckt. Geistesgegenwärtig macht ihr Begleiter, vermutlich Gian, einen Schnappschuss von ihr. Nach vollbrachter Tat posiert Greti mit der neuen Frisur am Bahnsteig. Die Haarspitzen kräuseln sich gleich bei den Ohren. Die Haare sind gefallen: das äussere Symbol der inneren Selbständigkeit,103 hat Verena der Freundin vor einem halben Jahr geschrieben. Auch Gians Schwester Elisabeth, die Pferdekutschen und sogar Autos lenken kann, trägt ihr Haar kurz.104
Den Kopf neigt Greti leicht zur Seite – wie um zu relativieren: Gar so aufmüpfig bin ich doch nicht, wie es der Bubikopf signalisiert. Die Gesichtszüge wirken gelöst, die Augen blitzen voller Schalk dem Gegenüber direkt ins Gesicht. Einen Tag zuvor, am 8. September 1929, haben Greti und Gian in Igis geheiratet, im Kreis der engsten Verwandten. Von diesem Tag gibt es ein unprätentiöses Foto einer Gruppe auf einer Wiese, die Braut in einem schwarzen Kleid zwischen ihren Schwestern, der Bräutigam am Rand. Der Anlass liesse sich nicht erkennen, stünde da nicht das Datum. Wichtiger scheint es Greti, den Haarschnitt am Tag danach zu dokumentieren, kurz vor der Abreise nach Brasilien. Ihre linke Hand drückt den Daumen. Seit langem hat sie sich danach gesehnt, mit dem Liebsten in die Welt hinauszuziehen. Nun ist es so weit.
Wie hatten sich Greti und Gian nacheinander verzehrt, damals in den Jahren ihrer Studentenliebe in Zürich! Oft war es ihnen schwer gefallen, ihr Begehren zurückzuhalten. Dass sie stark bleiben und das Letzte – den Koitus – erst in der Ehe tun würden, war beiden klar. Als sie darüber sprachen, äusserte Gian seine Angst, sie könnten sich in einem innigen Moment vergessen. Greti teilte seine Sorge, konterte aber gleichzeitig: Für mich ist die Leidenschaft nicht etwas Schlechtes. Sie ist die Erlösung aus der Gefühlsarmut, der «Wohlanständigkeit» und kulturüberkleisterten Unechtheit. (…) Sie lässt uns die Welt in ihrer ganzen Farbigkeit und Schönheit empfinden und sehen.105 Freilich war es für Greti ebenso wichtig, im rechten Augenblick Nein sagen zu können.106
Ein Erlebnis mit dem Liebsten blieb Greti besonders im Gedächtnis.107 Es war das Jahr 1927, ein lauer Frühsommerabend, und Gian holte sie von einem Seminar an der Universität ab. Gemeinsam schritten sie in die sternenhelle Nacht hinaus, als er sie in seine Studentenbude einlud. Dort sassen sie eine Weile lang schweigend Schulter an Schulter nebeneinander. Die Leidenschaft kam über uns. Wir lagen Hand in Hand, Mund auf Mund in dem dämmerartigen, guten, ausgleichenden Dunkel. Was nun geschah, verschlüsselte Greti im Tagebuch mit griechischen Buchstaben. «Du wäre es so schrecklich, wenn wir uns einmal ganz nackt umarmen würden?» Er fragte es leise und zaghaft. Was mochte es gebraucht haben, bis er es überhaupt sagen konnte! Meine Antwort war ein banges Fragen: «Können wir dann noch stark bleiben?» (…) In plötzlichem Entschluss streifte ich mir das Gewand von der Schulter und barg in heisser Scham meine nackte Brust an der seinen – und dann lagen wir Mann und Weib. (…) Es war ganz anders als ich es je gedacht. Ein grosses, reines, ruhiges Stillsein erfüllte uns. Es war keuscher, als da wir uns je in Gewändern berührt. Selbst der Trieb schien ausgelöscht. Ein grosses Staunen über sein Gutsein über sein wundersames Stillesein erfüllte mich. Wenn ich mich auch einen Augenblick geschämt, so war das doch nur der Kampf gegen unsere Erziehung (…). Schämte ich mich denn vor meinen Schwestern, schämten wir uns denn vor einem Arzt, der uns doch ein ganz fremder Mensch? Hier aber war es das Wesen, das zu dem meinen gehörte, der Mensch, der meinem Sein, Sinnen und Fühlen am Engsten verbunden (…).108
Greti vertraute das Erlebnis Hildi Hügli an,109 ihrer besten Freundin aus der Kantonsschule, die in Bern studierte. Doch die konnte in der Entsagung kein höheres Ziel erkennen. Wir mögen eines vom andern noch so tolles Zeug verlangen, keines kann nein sagen,110 offenbarte sie Greti und spitzte deren Argumentation zu: Wenn Sinnlichkeit gut (…) – ja, sogar göttlich – war, dann musste das doch auch für die Zeit vor der Ehe gelten. Denn der Mensch ist Eines, er zerfällt nicht in einen verachteten gierigen Leib und in eine vergötternde, verachtende Seele.111 Die Leidenschaft zu bekämpfen sei ein Vorurteil. Diesen Schritt konnte und wollte Greti jedoch nicht mitgehen. Du hast den kostbaren, unendlich süssen Kern, der im Warten (…) liegt, nicht erkannt,112 verteidigte sie sich. Und dennoch brachten Hildis Worte sie ins Grübeln. Ich suche schon lange zu finden, warum ich Deinen Weg verurteile, oder vielmehr, warum etwas in mir so gegen die Liebe ohne Papier weht. (…) Vielleicht wird es auch mit der Zeit anders. Als ich im Frühling bei Dir war, sah ich, wie just das, was ich verurteile, Dich geändert, liebwerter, menschlicher gemacht, Dein ganzes Wesen in frühlingshafter Lieblichkeit durchflutete. (…) Und als ich letzten Sonntag (…) beim Gianin in seiner Bude war, gab er mir ein Buch mit: «Das Liebesleben in der Ehe», und als ich es las, fragte ich mich: «Warum stemme ich mich eigentlich dagegen, dass dasselbe ohne Band getan??» Ich weiss nur das Eine, dass dadurch mein ganzes Wesen vernichtet würde und ich nie mehr aufstehen könnte.113
Unter dem Eindruck der innigen Zeit mit Gian fragte sich Greti schliesslich, ob sie das Studium an den Nagel hängen sollte. Wäre es nicht schön, bald zu heiraten, anstatt sich weiterhin mit Dogmengeschichte und Eschatologie abzumühen? Gegenüber einer Freundin, die vor kurzem geheiratet hatte, gab sie sich am Ende des vierten Semesters überzeugt: Du und ich, wir werden unser Lebtag nichts Rechtes als studierte Frauenzimmer. Wohl stecken in uns zwei tüchtige Mütter und treue, starke Kameradinnen für einen Mann. Aber laut darf man solche Dinge nicht sagen, (…) sonst werden gewisse Väter rabiat.114 In den Sommerferien in Igis bei ihren Eltern, als sie das anderthalbjährige Tineli, die Pflegetochter, im Wagen herumschob, wuchs in ihr die Sehnsucht nach einem eigenen Kind.115 Doch als sie im Herbst wieder an die Universität zurückkehrte, erwachte die Leidenschaft für die Theologie wieder.116
Inzwischen hatte Joos Roffler bei der Bündner Landeskirche den Stein ins Rollen gebracht, der seiner Tochter den Weg ins Pfarramt bahnen sollte.117 Am 13. Juli 1927 beantragte er beim kantonalen Kirchenrat, die Bündner Landeskirche solle künftig auch Frauen in die Synode (das kantonale Pfarrerparlament) aufnehmen. Ausserdem solle man Studentinnen zur Zwischenprüfung, dem Propädeutikum, zulassen, denn es waren nicht die Universitäten, sondern die Landeskirchen, die angehende Theologen prüften. Zwar hatte die Universität Zürich 1914 eigens Fakultätsexamen für Frauen eingerichtet,118 dieses berechtigte aber nicht zum Pfarramt. Joos Roffler begründete seinen Antrag rhetorisch geschickt mit dem angeblich typischen Bündner Pioniergeist. Wenn unser Kanton (…) auf diesem Gebiete vorangeht, so würde ihm das sicher nicht zur Unehre gereichen. Er ist schon einmal, 1526, durch die Einführung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der ganzen Welt vorausgegangen, und wir freuen uns heute noch darüber.119 Rofflers Forderung erregte derart grosses Aufsehen, dass in den Zeitungen tagelang hitzig debattiert wurde, ob eine Frau das Recht und die Fähigkeit habe, Pfarrerin zu sein. Das Wort ergriffen meist andere Pfarrer, jedoch anonym.
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