Der freie Rätier, 24. September 1927
Autor: R. [Pfarrer Heinrich Roffler, Vicosoprano,
ein Namensvetter von Joos]120
Ist die Frau rein physisch schon den Anforderungen des Pfarramts121 gewachsen? Man denke an unsere oft weit auseinander liegenden, zur selben Pfarrgemeinde gehörenden und nur durch lange und mühevolle Wege zu erreichenden Bündner Bergdörfer! Man denke an Sturm und Wetter, Eis und Schnee! Im ganzen darf wohl gesagt werden, dass das Pfarramt Kraft und Männlichkeit erfordert.
Neue Bündner Zeitung, 20. Oktober 1927
Autor: Cu. [Pfarrer Peter Paul Cadonau, Ardez]122
Nach evangelischer Auffassung soll die Predigt die Verkündigung des Wortes Gottes sein, also einer objektiven Grösse. Je klarer, ruhiger, sachgemässer das geschieht, desto besser ist die Predigt. Nun ist aber gerade die Objektivität nicht die Stärke der Frau. Wir haben im praktischen Leben ja oft Gelegenheit, uns darüber zu freuen, dass unsere Frauen die Dinge von der persönlichen, empfindsamen Seite betrachten, und dass sie gerade dadurch uns Männern vielfach überlegen sind. Nun ist aber das eine Eigenschaft, die gerade auf der Kanzel nicht an ihrem Platze ist.
Neue Bündner Zeitung, 24. Oktober 1927
Autor oder Autorin: L.
Es mag dies in vielen Fällen richtig sein. Der Mann ist zumeist Verstandesmensch, während die Frau Gemütsmensch ist. Nun ist aber die Religion eine Sache des Gemütes in erster Linie. Und darum halte ich dafür, dass die Frau für das Predigeramt nicht so ganz ungeeignet ist, wie der verehrte Artikelschreiber es dartun will.
Neue Bündner Zeitung, 25. Oktober 1927
Autorin: Eine alte Frau
Sitzen derzeit manchenorts in der Kirche nicht mehrheitlich ältere Frauen und Kinder, und die Männerstühle sind fast leer? Wir Frauen haben nun das kirchliche Stimmrecht. Freuen wollen wir uns, wenn eine oder mehrere Predigerinnen bündnerische Kanzeln besteigen.
Neue Bündner Zeitung, 3. November 1927
Autor oder Autorin: D.
Der natürliche Frauenberuf ist eigentlich der Mutterberuf, und es ist nicht vom Guten, dass sich die Frauen immer mehr in die Männerberufe hineindrängen, auch in die sogenannten Gelehrtenberufe (…). Darunter hat die Familie schwer zu leiden.
Greti schnitt jeden einzelnen Artikel aus und klebte sie alle in ein graues Heft, das sie mit Gehört die Frau auf die Kanzel? beschriftete. Die Vehemenz, mit der die Gegner des Frauenpfarramts zum Kampf bliesen, weckte ihren Widerstandsgeist.123 Es war ihr bisher fern gelegen, sich als Frauenrechtlerin zu bezeichnen. Wie die meisten ihrer Freundinnen und Kollegen empfand sie nur Grauen, wenn sie die Stichworte Frauenstimmrecht und Frauenbewegung hörte.124 Eine Frauenrechtlerin war für sie nichts anderes als ein Drachen, der nichts von Haushalt versteht, die Kinder und den Mann vernachlässigt, in Versammlungen läuft und Vorträge hält (…).125 Doch angesichts der Debatten um ihren Wunsch, Theologin zu werden, angesichts der Distanz zwischen ihrem eigenen Selbstverständnis und dem, was andere ihr zugestehen wollten, und angesichts der Fremdheit, die sie empfand, wenn sie die Kommentare in den Zeitungen las,126 erkannte sie die Notwendigkeit zu kämpfen und für ihre Sache Begriffe zu finden. Der Kampf der Theologin mit ihrem Weg liess die Frau in mir ihrer Gebundenheit, ihrem Sklaventum – trotz der Freiheit der Schweizer! – erkennen. Und ich sah verwundert dem Umschwung meiner Ansichten zu.127 Erstaunt erzählte sie Gian davon, bange, wie er wohl reagieren würde. Siehst Du, dass ich auf dem Weg zur Frauenrechtlerin bin? Kannst Du mich auch so noch lieb haben? Er jedoch lachte, nahm sie in seine Arme und beruhigte sie: Du hast ja recht!128
Greti war unendlich erleichtert über Gians Verständnis. Zu Beginn des Jahres 1928 drückte sie ihre Verwunderung und Dankbarkeit darüber aus, dass sie sich gefunden hatten. Sie erkannte sich in der Protagonistin eines Romans wieder, den sie gerade las.129 Vor allem erfüllte mich eine tiefe Freude, dass Du schon das bist, wozu die Erna ihren Verlobten erst erziehen muss: dass er sie nicht als Weib, als Erholung und besseres Spielzeug, sondern als ganzen Menschen mit eigenem Selbst, als Kameraden und Freund werte. Aber frei zu werden aus der Bemutterung durch das Vaterhaus und die engere Heimat hatte auch ich, und dazu solltest Du mir helfen. Hinaus in die weite Welt und fremde Lande und Schicksale sehen!130 Vielleicht war ihr Vater sogar allmählich bereit, sie loszulassen. Immerhin hatte er in seiner Weihnachtspredigt davon gesprochen, wie er einst an der Wiege seines ältesten Kindes gestanden hatte, voll Freude und Hoffnung, es möchte einmal grösser, stärker und freier als er selbst werden.131 War sie nicht auf dem besten Weg, diese Hoffnung zu erfüllen?
Wenn sie sich ihre Zukunft mit Gian ausmalte, dann hatte sie ein komplett anderes Bild vor sich als das, das ihre Eltern abgaben. Ihrer Schwester Elsi erklärte Greti: Siehst Du, unsere Eltern bilden eine der glücklichsten Ehen, die es überhaupt gibt. Aber ich möchte sie doch nicht erleben, weil ich von einer Ehe noch mehr verlange.132 Ihre Mutter sei dem Vater ein liebes und tüchtiges Weib, könne aber bei vielem nicht mitreden, weil sie zu wenig gebildet sei. Aber siehst Du, unser Vater empfindet dies gar nicht (…). Dass eine Frau dem Manne aber Kameradin und Geistesgefährtin sein kann, die ihn auch in seinem wissenschaftlichen Streben versteht, weiss er gar nicht, und deshalb fehlt es ihm auch gar nicht. Unsere heutige Generation aber weiss dies alles.133 Greti war sich sehr wohl bewusst, dass es auch in ihrer Generation viele Männer – und Frauen – gab, die anders dachten, und setzte ihre Hoffnung darum in die Zukunft: Es wird die Zeit kommen, da jeder Mann erkennen wird, dass er sich selbst erniedrigt, wenn er meint, ein ungleichwertiges Wesen zu seiner Liebsten zu machen.134
Anfang Februar 1928 – seit der Begegnung am Bündnerball waren nun zwei Jahre vergangen – wollte Greti ihrer Liebe zu Gian eine Zukunftsperspektive geben. Da war die Erfahrung, von ihm mit all ihren Facetten, ihrem schroffen Charakter und ihrer neuen Identität als Frauenrechtlerin, geliebt zu werden, aber auch die Sehnsucht danach, endlich mit ihm zusammenzuleben und sich in der Sexualität nicht mehr zügeln zu müssen. Zwar hatte sie sich entschieden, weiter zu studieren, weswegen sie den Gedanken an eine baldige Familiengründung beiseiteschob. Dies schloss jedoch eine Heirat nicht aus. Sie fasste sich ein Herz und setzte ihren Eltern den Plan in einem Brief auseinander: Giannin und ich werden in einem Jahre heiraten (…). Kinder werden wir dann ca. fünf Jahre noch keine haben (aber nicht nach altväterischer Verhütungsmethode, weil die zu unsicher ist und ich nicht jeweilen in der Luft hangen gelassen sein will.) Euch werden die Haare zu Berge stehen: horribile dictu, ist dies eine schamlose Jugend, dass sie solche Dinge so frei und frank heraus sagt. Reinheit im landläufigem Sinne heisst aber nichts anderes als Nichtwissen um Dinge, die nun einmal sind. Wirkliche Reinheit ist etwas ganz, ganz anderes. (…) Ich kann nicht aus meiner Haut und hoffe, dass Ihr mich nicht an dem hindern werdet, was ich für recht und notwendig, mir und Gott gegenüber erkannt habe.135
Gretis Brief löste im Igiser Pfarrhaus helles Entsetzen aus. Glaubst Du etwa, dass Papa hocherfreut darüber ist?,136 schalt Betty Roffler die Tochter. Als ich ihm den Brief vorlas, ist er im Studierzimmer herumgereist und hat Euch nicht die sanftesten Namen gesagt. Dann meinte er aber, es hätte (…) gar keinen Wert, dass Du noch weiter studierest; das sei ja das Geld zum Fenster hinausgeschmissen. Da sei es am gescheitesten, Ihr verlobet Euch bald und nachher sage er dem Bündner Kirchenrat, er solle die ganze Motion ins Kamin hängen. Es habe doch keinen Wert, dass man solches Tam Tam mache um nichts. Auch das Examen im Frühling lässest Du dann gescheiter beiseite.137 Erst kürzlich hatte der Kirchenrat Greti zum Propädeutikum, der kantonalen theologischen Zwischenprüfung, zugelassen, und sich dafür ausgesprochen, künftig auch Frauen in die Synode aufzunehmen. Nun lag der Ball bei den regionalen Pfarrerparlamenten, den Kolloquien, und auch dort liessen die Diskussionen hoffen. Nur in Prättigau-Herrschaft, wo auch Rofflers Heimatdorf Furna lag, hatte man seinen Antrag abgelehnt.138 Leider war von dort nichts anderes zu erwarten gewesen, schliesslich führte Jakob Rudolf Truog die Geschäfte, Pfarrer unten im Tal in Jenaz und vehementer Gegner des Frauenpfarramts. Truog liess keine Gelegenheit aus, im Kirchenrat gegen die Theologinnen zu wettern, und auch in den Zeitungen schoss er mit scharfer Munition. Von allen andern Kolloquien kamen aber positive Signale, und so sah Joos Roffler zuversichtlich der Synode entgegen, die die Sache im Sommer besiegeln sollte. Wenn Greti nun aber heiraten wollte, waren seine Bemühungen umsonst gewesen, denn die Debatten drehten sich nur um ledige Theologinnen.
Читать дальше