1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Die Mutter wunderte sich mehr über Gretis Illusionen punkto Familienplanung. Die Tochter stellte sich das mit der Verhütung etwas gar einfach vor. Und zuletzt kommt dann ungerufen ein Pöps nach dem andern. Auch, dass Greti so offen über ihre Lust schrieb – dass sie nicht in der Luft hangen gelassen werden wollte, hiess ja nichts anderes als: Sie wollte nicht unbefriedigt bleiben139 –, missfiel Betty Roffler. Vermutlich hatte die Lektüre des feministischen Sexualratgebers von Marie Stopes, Das Liebesleben in der Ehe, der Tochter die Ehefreuden nähergebracht.140 Von wem hast Du eigentlich das mir gegebene Buch? Ich habe es zwar noch nicht fertiggelesen, aber soviel habe ich doch daraus gesehn, dass mein Mann auch ohne Buch ein sehr rücksichtsvoller Gatte war, der nie etwas forderte, was ich nicht selbst wollte, oder ohne dass er mich dazu geneigt machte, ausgenommen freilich die alte Verhütungsmassregel.141 Die Mutter bat Greti, das Buch ihren Schwestern nicht zu geben, besonders der unbesonnenen Elsi nicht, denn dadurch würde sie sich ihrer Regungen erst bewusst.142
Greti gefiel weder Ton noch Inhalt der elterlichen Reaktion. Ihr behandelt mich auch gar als naiven Gof,143 beklagte sie sich. Das Buch ermuntere nicht zum Sex, vielmehr diene es dazu, die eigenen Gefühle zu verstehen und einen Umgang damit zu finden, sei es, indem man sie sublimiere oder indem man heirate. Oder meinst Du Mama, es sei besser, vor Elsi werde einfach alles totgeschwiegen, «es» komme dann einmal über sie und sie sei der Sache ausgeliefert?144 Nein, das konnte die Mutter unmöglich wollen. War Euer Jahrhundert denn so ganz anders als wir sind?145 Greti weigerte sich, auf die Argumentation der Mutter einzusteigen und hielt an ihrer schonungslosen Offenheit fest. Sie offenbarte den Eltern gar, dass sie, als Gians Schlummermutter aus dem Haus war, einmal bei ihm übernachtet habe, beide keusch in Kleidern nebeneinander liegend.146 Diesmal versuchte Joos Roffler die Tochter nicht mit einer Standpauke, sondern mit rationalen Argumenten zur Vernunft zu bringen. Ein unbeherrschter Augenblick, und es ist geschehen. Nein Greti, traue Dir nicht zu viel zu. Unverhofft ist schon oft über manchen Frommen die Versuchung kommen. Du bist nicht einmal fromm. Also arrangiere Dich anders.147
Zunächst blieb alles beim Alten: Greti studierte weiter, und die Heirat war vorerst kein Thema mehr. Unter den Augen des ganzen Kantons legte sie ihr Propädeutikum ab. Kurz zuvor spottete sie Gian gegenüber: Wenn ich durchkomme, hast Du die berühmteste «Frau» in Graubünden zur Liebsten, und wenn ich fliege, die unmöglichste. Für mich ist es natürlich dann schon am schönsten, wenn ich einfach unter einem andern Namen verschwinde, d. h. das Greti Roffler aufhört zu existieren und daraus ein Greti Caprez wird. Nur der Ätti ist zu erbarmen, denn seine Tochter wird es immer sein, die durchgeflogen ist.148 Der Vater brauchte sich nicht zu schämen: Seine Tochter bestand die Prüfung mit der Note gut. Sechs Wochen später trafen sich alle Pfarrer aus Graubünden in Klosters zur Synode, um über die Zulassung der Frau zum Pfarramt zu diskutieren. Nach den regionalen Kolloquien beschloss nun auch die Synode mit 51 zu 4 Stimmen, dem Volk eine Vorlage zur Abstimmung vorzulegen: Zulassung der (ledigen) Theologin zum Pfarramt.
Der Vater schöpfte Hoffnung, doch Greti fühlte sich eingeengt ob der Pläne, die er für sie schmiedete. Er habe kein Recht, stolz zu sein auf seine Tochter, hielt sie ihm vor: Ich bin weder ein Genie noch sonst etwas Besonderes, sondern nur ein ganz, ganz mittelmässiger Mensch (…).149 Besonders regte sie sich darüber auf, dass er die Gesetzesvorlage in einem Artikel als Lex Grete bezeichnet hatte. Erstens heisse sie gar nicht so, und zweitens wolle sie keinesfalls mit dem Gesetz in Verbindung gebracht werden. Mir ist diese ganze Komödie zum Davonlaufen verekelt. (…) Spotten werden sie sowieso, wenn sie erfahren, dass ich heirate, und es wird ihrer etliche geben, die es mir sehr, sehr verübeln, dass ich die ganze Aufregung für nichts verursacht habe.150
In den Weihnachtsferien 1928 kam es im Pfarrhaus in Igis zum Eklat. Nach dem Ende der Vorlesungen war das Liebespaar aus Zürich angereist. Gian, frisch gebackener ETH-Ingenieur, wollte zu den Festtagen weiter nach Pontresina zu seinen Eltern fahren. Beim Mittagessen am Pfarrhaustisch sprachen Greti und Gian davon, sich zum Jahresende verloben zu wollen. Joos Roffler stand abrupt auf und verliess den Raum mit den Worten: Ich bin wenigstens noch nicht gefragt worden!151 Gian, sich des Ernsts der Lage offensichtlich nicht bewusst, lief ihm nach und fragte, ob der Schwiegervater in spe einen offiziellen Briefbogen hätte, er wolle einen formellen Antrag stellen. Doch Joos Roffler ertrug keinen Spass. Er liess Gian stehen, ging zurück zur Tochter und bellte: Wenn Du diesen heiratest, kommst Du mir nie mit ihm ins Haus und gebe ich Dir keinen roten Rappen.152 Dann ging er aus dem Haus und liess den Rest der Familie konsterniert zurück.
Später redete Greti ihm ins Gewissen: Er könne doch nicht im Ernst erwarten, dass der Freund der Tochter, die er so frei erzogen habe, bei ihrem Vater um ihre Hand anhalte – ausser sie würde dasselbe bei seinem Vater tun!153 Gian seinerseits schickte Joos Roffler einen Brief, in dem er einen versöhnlichen, allerdings immer noch ironischen Ton anschlug. Ich bin ein hochmütiges, freches Engadinerfrüchtlein, das ist doch Ihr Urteil über mich, und Sie haben vollkommen recht; denn was sich heute Mittag im Studierzimmer zugetragen hat, bestätigt es, und mich wundert, dass Sie mir nicht sofort die Türe gewiesen haben.154 Nachdem der Zorn verraucht war, besann sich Gretis Vater. Ich will gerne zugeben, dass ich noch in altväterischen Anschauungen befangen bin. (…) Dass Sie anders eingestellt sind, kommt wohl weniger von Ihnen als von Greti (…). Ich betrachte sie mit ihren modernen, der Frauenemanzipation entsprungenen Ideen als die intellektuelle Urheberin der ganzen Geschichte.155 Schliesslich gab der Vater den beiden seinen Segen. Es nützte ja doch nichts, gegen den harten Schädel seiner Tochter kam er nicht an.
Auch Gians Eltern stimmten der Verlobung zu. Seine Mutter, die zu Beginn ihrer Beziehung noch grosse Vorbehalte gegenüber Greti geäussert hatte, sah in ihr nun eine verständnisvolle liebe Gefährtin für den einzigen Sohn.156 Um sie noch mehr für sich zu gewinnen, stellte sich Greti als beflissene Schwiegertochter dar. Ich möchte noch viel von Ihnen lernen, um einmal Gianin eine tüchtige Hausfrau zu werden. Wir sind auf dem Wege, der uns zueinander führt, schon ein gut Stück gegangen. Wir müssen ihn aber doch zu Ende gehen, bis Sie mir auch zur Mutter werden (…).157 Damit war das Eis endgültig gebrochen, und Gians Mutter trug ihr das Du an.158
Vor der Verlobung überreichte Greti ihrem Liebsten ein blaues, liniertes Heft, das sie auf der ersten Seite mit Illustration einer Studentenliebe. Gian Caprez zu Weihnachten 1928 in Liebe zugeeignet beschriftete. In das Heft hatte sie 76 Ansichtskarten geklebt, die Schauplätze der ersten drei Jahre ihrer Liebe, von Zürich in diversen Perspektiven über die Halbinsel Au und den Säntis bis hin zu den Orten ihrer Kindheit, Igis und Pontresina. Am 30. Dezember 1928 verlobte sich das Paar in Pontresina. Anstelle eines grossen Festes zündeten sie nachts um zwei Uhr zwei rote Kerzen an und steckten einander zwei schmale, goldene Ringe an den Finger. Im Tagebuch prophezeite Greti: Die Kerzlein sollen wieder brennen in unserer Hochzeitsnacht, dann wenn unsere Kinder getauft werden, und dann wenn wir sterben, sollen auch sie verlöschen.159
Nun stellte sich die Frage nach der gemeinsamen Zukunft drängender. Gian zog es in die Ferne, und Greti wollte mit ihm gehen.160 Im Juli 1929 reiste er nach Paris, klopfte bei verschiedenen Schweizer Ingenieuren an und fragte nach einer Stelle. In der französischen Hauptstadt erhielt er dank einem Schweizer Kontakt ein Angebot, allerdings nicht in Paris, sondern im fernen São Paulo, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Polytechnikum. Aufgeregt berichtete er der Liebsten davon. Sie könnten heiraten und zusammen nach Brasilien reisen! Oder Greti würde zuerst in der Schweiz Examen machen und dann nachkommen. Eigentlich tust Du mir leid, Du Liebes. Du solltest Deine Kräfte für das Examen brauchen, ohne Dich erst mit solchen Problemen zu plagen. (…) Nur davor fürchte ich mich, dass Du Dir und vielleicht im stillen auch mir Vorwürfe machen könntest, wenn Du nun abbrechen würdest. Überleg es Dir in aller Ruhe und arbeite so weiter wie bis jetzt, noch ist kein «fait accompli» da.161
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