Tagebuch, 3. Dezember 1926
«Nun wirst du nicht mehr so kalt sein», sagtest Du. Du Giannin fühltest Du denn die ganze lange Zeit nicht, dass hinter der Maske meiner Kälte ein zages, schwaches Herz in heissestem Sehnen Dich rief? Weisst Du denn nicht, dass ich auch nur ein Weib bin mit einem kleinen, zitternden Herzen?
Zürich, 7. Dezember 1926, Gian an Greti
Du liebes Greti,
Ich finde gerade auch in diesem Scheusein, das meinerseits gewiss ebensogross war, etwas Feines. Nun ist etwas geschehen, etwas Grosses, dass diese böse «Maske der Kälte» genommen hat (…).
Nun, da die Verhältnisse zwischen ihr und Gian geklärt waren, wollte Greti ihn ihren Eltern vorstellen. Als der Vater davon erfuhr, reagierte er wutentbrannt. Du sollst studieren, und ausser dem Studium hat weder jetzt noch später irgendwann irgendetwas zu existieren für Dich!,88 herrschte er sie an und versagte ihr in seiner Eifersucht den üblichen Kuss vor dem Schlafengehen.89 Joos Roffler fürchtete, den ersten Platz im Gefühlsleben der Tochter zu verlieren, ihr nicht mehr Anker und Orientierungspunkt zu sein. Ausserdem sah er seine Ambitionen in Gefahr: Wenn sie heiratete, würde sie dereinst nicht in seine Fussstapfen treten.
Seine Frau Betty brachte der Tochter mehr Verständnis entgegen. Sie hatte selber als Jugendliche Schule und Liebe gegeneinander abgewogen. Ihr Vater Tobias Luk war Kantonsbuchhalter in Chur, ein fortschrittlich denkender Mann, der in jungen Jahren in Russland und Amerika sein Glück versucht hatte90 und die Tochter auf die Kantonsschule schicken wollte – Anfang der 1890er-Jahre ein unerhörtes Ansinnen, noch waren Mädchen nicht zur Matur zugelassen. Doch Betty, so erzählt es Greti später in der Familienchronik, mochte nicht stillsitzen und lernen. Lieber ging sie mit ihren Freundinnen zum Tanz. Die Liebeslust der eigenen Tochter konnte sie darum nachvollziehen.
Nicht so die Grosseltern in Furna, die sich um Gretis Ruf als ehrbare Jungfrau sorgten.91 Der Enkelin blieb neben dem Studium ohnehin zu wenig Zeit für die Entwicklung ihrer hausfraulichen Fähigkeiten.
Elsi Aliesch-Nett, geb. 1925, Gretis Cousine
zweiten Grades, aufgewachsen in Furna92
Gretis Grossmutter maulte, ein Studium brauche eine Frau nicht, das gebe dann keine gute Hausfrau. Greti konterte, das wolle sie dann schauen, ob sie keine rechte Hausfrau sein könne. Sie hatte dann ja sechs Kinder. Sie hat schon bewiesen, dass man das alles kann!
Im Dezember 1926, fast ein Jahr nach dem Bündnerball, gelang es Greti dennoch, die Einwilligung des Vaters für den Antrittsbesuch des Liebsten in Igis zu erlangen. Zu Beginn der Weihnachtsferien, auf dem Weg nach Pontresina, besuchte Gian sie im elterlichen Pfarrhaus. Sie zeigte ihm das Dorf ihrer Kindheit und führte ihn ins leere Kirchenschiff, wo sich die beiden unter der Kanzel von Gretis Vater lange küssten. Dies aber war der schönste Gottesdienst, den ich erlebt. Von der Wand winkte tröstlich der Spruch: «Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.» Und meine Augen entdeckten auf der andern Seite den Psalm: «Dein Wort ist meinem Mund süsser denn Honig», den er viel logischer las: «Dein Mund ist süsser denn Honig.» Was Wunder, dass wir lange hatten, die Kirche anzusehen!93 Siehe da: Mit seinem Charme und Humor eroberte Gian die Herzen sämtlicher Pfarrhausbewohner.94 Nur Joos Roffler hoffte insgeheim, die Flamme der Tochter werde bald erlöschen.
Tina Münger, 1925–2017, Pflegekind bei Gretis Eltern
vom ersten Lebensjahr bis zur Konfirmation95
Meine Eltern litten beide unter Tuberkulose und starben bald nach meiner Geburt. Ich kam dann als Pflegekind ins Pfarrhaus von Igis. Die Pfarrerskinder waren schon gross, Greti studierte in Zürich, Christa, der jüngste, war zehn Jahre alt.96 Papa Roffler war ein hochintelligenter Mensch, er hatte ein grosses Wissen, und er konnte sehr charmant sein. Aber er war sehr jähzornig, und er führte ein strenges Regime. Man ist nicht an ihn herangekommen. Er hatte recht und damit basta. Punktum, hat er immer gesagt. Punktum. Ich war sehr empfindlich, laute Diskussionen waren für mich tödlich. Einmal fragte ich die Mama: Warum hast Du diesen Mann geheiratet? Der hat ja immer schlechte Laune, Tag für Tag schlechte Laune! Sie sagte dann: Weisst Du, er ist ja sonst ein Lieber. Erst später habe ich gemerkt, dass nicht überall so eine Atmosphäre herrscht wie bei uns. Non und Nona etwa, die Eltern von Gianin, die waren ganz andere Leute. Für mich war das wie ein Sonnenaufgang, wenn die kamen. Die brüllten und stritten nicht wie Rofflers. Sie waren immer ruhig und nahmen es gemächlich.
Elsi Jenny-Roffler, 1911–1998, Schwester von Greti,
in einem selbst verfassten Lebenslauf97
Der Vater war ein strenger, aber sehr besorgter Patriarch, die Mutter war ein liebevolles Aufstehmännchen. Sie hatten sich sehr gut ergänzt.
Für Greti war der Vater die dominante Figur, Gian hatte zu seiner Mutter die engere Beziehung. Christina Lendi war in Celerina als Tochter eines Hoteliers, Pferdefuhrhalters und Weinhändlers aufgewachsen. Vor Gians Geburt hatte es das Schicksal nicht gut gemeint mit ihr: Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter bei der Geburt eines jüngeren Geschwisters.98 Die zweite Ehe des Vaters war unglücklich, er begann zu trinken und nahm sich schliesslich im Inn das Leben. Christina hatte damals gerade den Baumeister Johann Caprez aus Pontresina geheiratet und ihr erstes Kind geboren. Kurze Zeit später wurde das Kind krank und starb ebenfalls. Voller Sorge war sie bald schwanger mit ihrem zweiten Kind. Der 5. Mai 1905 wurde zu ihrem Glückstag: Sie gebar Johann Rudolf, den alle nur rätoromanisch Gian nannten und der ihr Ein und Alles wurde.
Materiell hatten Gians Eltern keine Sorgen, das Baumeistergeschäft lief in Zeiten des boomenden Tourismus im Oberengadin prächtig, und Johann Caprez war ein geschickter Geschäftsmann, der durch Spekulation zu einem beachtlichen Vermögen kam.99 Nicht mit Geld zu kaufen war die Gesundheit. Kinderkrankheiten wurden lebensbedrohlich. In einer kritischen Nacht gaben ihn die Ärzte auf, doch das Kind war zäh. Allerdings verursachte ein Gelenkrheuma ein Herzleiden, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Trotz seiner zarten Konstitution und der überbehütenden Mutter war Gian kein vorsichtiges Kind. Auf dem Flachdach des Elternhauses ging er mit Freunden gefährliche Mutproben ein, sprang zwischen Kamin und Dachkännel hin und her oder wetteiferte darum, die Starkstromleitung zu berühren, ohne vom Schlag getroffen zu werden. Um sich ein Taschengeld zu verdienen, pflückte er auf dem Friedhof Edelweiss und verkaufte sie an Touristen. Bei Skirennen war er meist der Schnellste, und auch im Bergsteigen entwickelte er einen grossen Ehrgeiz und kletterte allein durch exponierte Felswände.
Als Greti später Gians Familiengeschichte erfuhr, meinte sie zu verstehen, wo seine Schüchternheit und Wohlanständigkeit, seine Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe herkamen. Schuld daran war in ihren Augen seine zu enge Mutterbindung. In Tat und Wahrheit, so war Greti überzeugt, schlummerte in ihm ein wildes Kind, das von seinen Eltern beschnitten worden war. Es wurde eingeschüchtert und eingeschlossen in die (…) Nützlichkeits- und Anstandsregeln, die da Convention heissen. (…) Da ging er lieber unten auf dem festen Erdboden, lieber – Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, lieber Knecht in Wohlbehütetheit als eigener Herr in Gefahr. (…) Er lernte ein Mädchen kennen, dessen Liebe voller Widersprüche und Heftigkeit und heissem Sehnen war. All das Wilde, das an ihm abgetan worden und das er selber abgetan, fand er in ihm wieder. Sie war auch wirklich nicht lebenstüchtig, für das Leben, wie er es bis jetzt verstanden. Denn sie sah zu viel, sagte zu viel, schwieg zu wenig und versuchte immer wieder, sich durchzusetzen. (…) Vielleicht dass er sie (…) von ihrer Masslosigkeit und Rohsein erlösen konnte, in ihrer Demut des liebenden Weibes und süssen Beugens unter seinen Willen, unter das Feine und Zarte, das neben seinem Herrentum sein Wesen ausmacht. Feine und zarte, selbstsichere und selbstbewusste Eigenwilligkeit – dies ist er. Und in Liebe zu ihm verfeinerte, ausgeglichene Eigenwilligkeit – dies ist sie: beide in ihrem anzustrebenden Ziel.100
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