Ein junges Liebespaar auf einem Schiff. Keinem Ozeandampfer wie der Conte Rosso: Dieses Motorboot ist schon mit zwölf jungen Männern und Frauen ausgelastet. Fürs Foto sind sie zusammengerückt. Prominent und raumgreifend: Gian Caprez und Greti Roffler. Im Gegensatz zu den anderen Paaren stehen sie aufrecht im Boot und umschlingen sich, wobei sie grösser wirkt als er.
Anlass ist der Maibummel der angehenden Ingenieure auf dem Zürichsee zur Halbinsel Au. Die Gesellschaft hat sich herausgeputzt, es sieht aus, als ob die Frauen um den schönsten Damenhut wetteiferten. Nur Greti hat sich für ein Unisex-Beret entschieden, kombiniert mit einem weiten, luftigen Sommerkleid mit tief liegendem Gürtel. Gian trägt ebenfalls ein Beret, einen Anzug und ein weisses Hemd. Für eine simple Bootsfahrt hätte man sich vermutlich nicht so schön gemacht, aber der Maibummel ist ein besonderes Ereignis. Vor nicht einmal vier Monaten haben sich Greti und Gian ineinander verliebt, auf der Au küssen sie sich zum ersten Mal. Im Tagebuch schwärmt sie kurz nach dem Ausflug: Alle Worte sind zu plump für das Verhältnis des Gianin und mir. Noch bei keinem Menschen hatte ich so deutlich das Gefühl vom Vorhandensein seiner Seele, liebte so sehr seine Seele getrennt vom Körper.58
Schon bei der ersten Begegnung am Abend des 26. Januar 1926 in Zürich hatte Greti Roffler das starke Gefühl einer Schicksalshaftigkeit. Sie war neunzehn, studierte im ersten Semester an der Universität und fühlte sich in der Stadt verloren. Welch ein Verkehr, was für eine Betriebsamkeit! Die leuchtenden Schaufenster, die eleganten Herren und geschminkten Damen, die Prostituierten im Niederdorf – all das befremdete sie. Selbst Chur, wo sie die Kantonsschule besucht hatte, wirkte im Vergleich wie ein beschauliches Dorf, das Strassenbild geprägt durch Pferdekutschen. Sie hatte kaum je ein Automobil gesehen – die lärmenden Gefährte waren in Graubünden erst vor wenigen Monate zugelassen worden. Mehr noch wunderte sie sich über die Anonymität in der Grossstadt. Von den vielen Menschen, die mir begegnen, kenne ich fast nie einen, klagte sie einer Freundin. Ich habe mich dran gewöhnt, sie überhaupt nicht mehr zu sehen.59 Um sie in Zürich in guten Händen zu wissen, hatte ihr Vater sie bei seinem Kollegen Paul Schmid, dem Pfarrer am St. Peter, einquartiert. Von dessen Wohnung am Talacker wanderte sie jeden Morgen zur Hochschule hinauf. Der Austausch mit ihrer Cousine Gretly Puorger, die hier Medizin studierte, linderte das Heimweh.
Sie war es, die Greti bat, sie an den Bündnerball ins Restaurant Kaufleuten zu begleiten. Doch Greti zögerte: Sie habe sich am Finger verletzt und ausserdem gar kein passendes Kleid.60 Womöglich war sie aber auch einfach schüchtern, fühlte sich zu wenig schön für den Ball und fand in der Verletzung eine willkommene Ausrede. Am Ende sagte sie doch zu. Ihre Studentenbude lag nur einen Katzensprung vom Kaufleuten weg, so dass sie jederzeit nach Hause gehen konnte. Im repräsentativen Saal mit dem Parkett, der Kassettendecke und den Balkonen, von denen aus man das Geschehen auf der Tanzfläche verfolgen konnte,61 trafen sich Studierende aus allen Fachrichtungen und allen Ecken Graubündens. Das Gefühl, weit weg von der vertrauten Umgebung zu sein, einte die jungen Frauen und Männer. Auf der Tanzfläche drehten sich immer neu zusammengewürfelte Paare, eine Tombola versprach Preise. Greti zog das grosse Los: eine Flasche Cherry Brandy, die sie mit allen am Tisch teilte. In der Runde sass auch Gian Caprez, Sohn eines Baumeisters aus Pontresina und Ingenieursstudent. Sie kannten sich flüchtig von der Kantonsschule in Chur, wo er die Klasse über ihr besucht hatte. Nun begegneten sie einander das erste Mal von Angesicht zu Angesicht. In dieser Nacht aber wurde daraus eine Liebe, die nicht mehr aufhörte,62 erinnerte sich Greti Jahrzehnte später, mit über siebzig Jahren, in ihren Memoiren.
Nach dem Bündnerball wanderten Gretis Gedanken immer wieder zu Gian. Eigentlich kam ihr die Begegnung mit ihm ganz und gar nicht gelegen. Sie hatte schon an der Kantonsschule den einen oder anderen Schwarm gehabt, hatte geschmachtet und gelitten. Nun wollte sie sich auf das Studium konzentrieren und wehrte sich dagegen, wieder dem Strudel der Leidenschaft ausgeliefert zu sein.63 Gegen den Willen des Vaters hatte sie sich für Alte Sprachen und nicht für Theologie entschieden, denn sie litt an Selbstzweifeln und konnte sich nicht vorstellen, jemals auf einer Kanzel zu stehen. Statt dessen stellte sie sich vor, später Lehrerin an einem Töchtergymnasium zu werden.64 Doch schon im Lauf des ersten Semesters stellte sie ihre Wahl in Frage. Sie fand es öde, stundenlang über Griechisch- und Lateintexten zu brüten und nach der genauen Bedeutung eines Wortes zu suchen. Unter der Woche verirrte sie sich darum immer öfter in die Räume der theologischen Fakultät gleich neben den Altphilologen, wo über Fragen diskutiert wurde, die Greti brennend interessierten: Was war der Sinn von Leben und Tod? Worin bestand die menschliche Existenz? Fragen, die sich ihr in der Einsamkeit noch drängender stellten.65 Abends nahm ihr Zimmerwirt Paul Schmid sie zu religiösen Gesprächsabenden für junge Frauen mit, und sonntags hörte sie gebannt seinen Predigten zu.66 Die Religion wurde in der Grossstadt zur Nische, in der sie sich aufgehoben fühlte – und immer öfter fragte sie sich, ob sie nicht doch zur Theologie wechseln sollte. Um kein Semester zu verlieren, müsste sie ihre ganze Freizeit in das versäumte Hebräisch stecken.67 Doch ausgerechnet jetzt tauchte dieser Gian Caprez auf und stellte ihre Pläne in Frage.
Tagebuch, 2. Februar 192668
Es geht mir so viel im Kopf herum und doch weiss ich nicht, was oder auch wie schreiben, am allerwenigsten aber was tun.
Was soll ich zur Theologie umsatteln, denn ich will nicht ledig bleiben. Und wenn ich auch umsatteln würde, was wird später mein Los sein? Pfarrhelferin, wie ich auch ohne Uni werden könnte69, denn predigen kann und will ich nicht.
Dann darf ich aber nicht mehr tanzen, auch nicht mehr lieben und werde zu einer versauerten alten Jungfer, oder bringe es höchstens noch zu einer Pfarrfrau, wovon mir keines passt. Wenn ich aber heiraten würde, wie könnte ich es verantworten, andere Menschen, meine Nachkommen in den gleichen Wirrwarr, die gleiche Not, in denen ich bin, hineinzufallen. Könnte ich es dann ertragen, wenn sie mir eines Tages sagen würden: Warum nur hast du uns geboren?
Und was ist schuld an der Geschichte? Der Bündnerball! Er hat uns beide verrückt gemacht! Ich war vorher so ruhig, hatte mit allem abgeschlossen und mich ganz auf zukünftiges Altjungferntum eingestellt. Und da muss mir dieser Gianin in den Weg laufen.
Der Konflikt, der sie ein Leben lang begleiten sollte, zeigte sich ihr jetzt, im Februar 1926, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Noch versuchte sie ihn kleinzuhalten, indem sie ihre Liebeswünsche als unrealistisch abtat.
Tagebuch, 14. Februar 1926
In zwei Wochen bin ich hoffentlich zu Hause. Er wird auch heimreisen, später, nach mir, und wir werden uns nie mehr sehen. Denn Architekten, stud. ing., bauen doch gern Luftschlösser, und wer auf Luftschlösser traut und hofft, ist ein Narr! (…) Ich werde überhaupt nicht heiraten; ich weiss, dass dies in meinem Schicksal liegt. Wie ich mich dann durchs Leben schlage, weiss ich noch nicht, vielleicht alt und vergrämt, vielleicht froh und glücklich (…). Wer weiss? Wo bin ich in zwanzig Jahren?
Nachts
Himmlischer Herre hilf mir aus meiner Not und Verzweiflung (…). Hilf mir das Rechte zu wählen, den Weg zu gehen, den Du willst. Sag mir, ob ich Theologie studieren solle. Herr führe mich, Herr erlöse mich!
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