1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Greti faszinierte die Vorstellung, mit Gian nach São Paulo zu ziehen und ihr Eheleben fern von Eltern und Schwiegereltern zu beginnen. Auch ihre Freundin Hildi hatte kürzlich geheiratet, war mit ihrem Mann nach Amerika gegangen und fasste dort eine Laufbahn an der Universität ins Auge.162 Warum sollte Greti es ihr nicht gleichtun und in Brasilien das Examen vorbereiten? Natürlich hatte ihr Vater grosse Vorbehalte gegen diesen Plan. Die Tochter solle den Liebsten ziehen lassen und erst das Studium abschliessen, zumal es in Brasilien Wilde gebe.163 Das heisst also, ich soll Dich allein hineingehen lassen, um zu sehen, ob sie Dich eventuell auffressen und wenn nicht, nachkommen! Da sollen sie mich lieber gleich mitfressen, spottete Greti. Die Motivation des Vaters für solche Aussagen kannte sie nur zu gut. Er möchte mich auch im Glaskästlein auf der Kommode seiner Studierstube haben. Wenn dies ginge! Mich zieht es mit tausend Fäden nach Brasilien oder Sibirien oder sonstwohin. Mit Dir allein sein, endlich Du und ich und sonst niemand, der immer alles zu wenig vernünftig und würdig, zu wenig bürgerlich und reserviert findet. Endlich «Haare abschneiden» und tun, was ich will und Du, was Du willst! Es sitzt mir ganz tief im Herzen. (…) Liebes, wir gehen, gell, wir gehen! (…) Besser, von Wilden gefressen zu werden als zu Hause mit einem Zopf und tausend weitern «Zöpfen» fast zu ersticken.164
Trotz Enthusiasmus fiel Greti die Entscheidung nicht leicht. Da war ihre Freundin Verena, die fand, sie müsse unbedingt vorher Examen machen.165 Da war Pfarrer Christian Lendi aus Ragaz,166 der sie einlud, bei ihm ihr Praktikumssemester zu absolvieren.167 (Ragaz war zwei Dörfer von Igis entfernt, lag aber im Kanton St. Gallen, und da man sich dort noch gar nicht mit der Zulassung von Pfarrerinnen befasst hatte, fühlte sich Lendi vermutlich unbelastet.) Und da war die geplante Abstimmung über die Zulassung lediger Theologinnen zum Pfarramt in Graubünden. Doch bis zum Urnengang konnte noch viel Zeit verstreichen – da konnte Gian noch dreimal nach Brasilien gehen und wieder zurückkommen. Ach Du, ich bin doch wahrhaftig nicht schuld, dass die Andern es für so unendlich wichtig ansehen (…), ob nun ein Mensch eine Hose oder einen Rock anhat,168 seufzte Greti. Ich habe mich nun einmal in den «Glaskasten» gesetzt. Aber ich (…) habe in meiner Liebe für Dich entschieden und habe nun auch diesen Weg zu gehen.169
Gian konnte Greti gut verstehen. Er redete ihr zu, mit ihm zu kommen und die Examensliteratur mitzunehmen. Ich begreife, dass Dir die Entscheidung schwerfällt, denn Du steckst nun mittendrin in Deiner Arbeit, Du hast das Examen als etwas Konkretes vor Dir und bist umkränzt oder umzingelt vom bündnerischen Kirchen- und Grossen Rat. Versuche Dich einmal nach Brasilien zu versetzen und lass dann dies alles auf Dich einwirken. Die Wichtigkeit und Tragweite der verschiedenen Räte wird dann wesentlich geschmälert (sag es bitte Deinem Ätti nicht) (…).170
Gians Worte überzeugten Greti, und nun ging alles Schlag auf Schlag. Er telegrafierte seine Zusage nach Brasilien, buchte die Überfahrt für den September, und die machtlosen Eltern und Schwiegereltern stimmten der Hochzeit zu. Am 8. September 1929 traute Josias Roffler Tochter und Schwiegersohn in seiner Kirche in Igis. Form und Inhalt der Feier bestimmte Greti. Sie setzte ihren Wunsch durch, die Ehe an einem Sonntag vor versammelter Gemeinde zu schliessen anstatt abseits des öffentlichen Interesses171 an einem Werktag, wie es der Vater lieber gehabt hätte.172 Und sie wehrte sich gegen seinen Vorschlag, als Trauspruch Ruth 1,16 Wo Du hingehst, da gehe ich auch hin zu verlesen. Den Vers fand sie abgedroschen, denn dass sie dem Liebsten folge, sei ihr selbstverständlich. Wichtiger schien ihr, nie zu vergessen, dass unsere Liebe geschenkte Gnade Gottes ist, (…) dass uns unsere Ehe nicht das Letzte und das Höchste sein darf,173 wie sie Gian einschärfte: Wir dürfen nie in unserer Ehe aufgehen.174 Die Verse 34 und 35 aus Lukas 20 passten da besser, denn sie war sich nun gewiss, dass sie der Theologie auch in der Ehe treubleiben wollte: Und Jesus sprach zu ihnen: Die Kinder dieser Welt heiraten und lassen sich heiraten; welche aber gewürdigt werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung von den Toten, die werden weder heiraten noch sich heiraten lassen.175 Kurz vor der Hochzeit schrieb sie ihre Interpretation des Lukas-Wortes: Ich nehme die Aufgabe meines Examens mit mir und die Aufgabe nie zu vergessen, dass ich Theologin bin. Wenn ich katholisch wäre, wäre ich Nonne, «Gottgeweihte». Aber als Protestantin habe ich die evangelische Freiheit, mich zu verehelichen.176
Am Hochzeitstag stiegen die beiden, wie Greti es vorgesehen hatte, in schlichten schwarzen Kleidern die Stufen zum Taufstein hinauf, als zwei aufrechte, einfache Menschen, Kameraden, die sich vollkommen bewusst sind, dass ihre Ehe etwas Schweres und Ernsthaftes sein wird.177 Mit zwei schwarzen Überseekoffern und zwei kleineren Koffern mit Gians Akkordeon und Gretis Handschreibmaschine178 setzten sie sich am darauffolgenden Tag in den Zug nach Zürich.
Ein Hörsaal voller Studenten. Mit einer Studentin. Wer diese jungen Menschen unterrichtet, wird die Frau unter ihnen immer im Blick haben, nicht nur ihrer Position in der Mitte wegen. Die Männer wirken uniformiert, ihre Anzüge zeichnen sie als Teil der Gruppe aus, während die Frau in ihrem dunklen Samtkleid sofort als Exotin sichtbar ist. Die Verhältnisse sind klar, es ist eine Welt der Männer, und auf den jovialen Beau mit dem gegelten Haar wie den freundlichen Musterschüler mit der runden Brille wartet nach dem Studium eine Position. Die Frau hingegen wird, egal wie sie auftritt, in dieser Gruppe immer zuerst als Vertreterin ihres Geschlechts wahrgenommen. Sie wird geduldet in der männlichen Übermacht, und ihre berufliche Zukunft ist wie ihre Anwesenheit im Hörsaal nicht vorgesehen.
Das Bild ist im Jahr 1916 an der ETH Zürich entstanden.179 So ähnlich muss es am theologischen Seminar Ende der 1920er-Jahre ausgesehen haben. 61 Studierende waren dort eingeschrieben, darunter zwei Frauen, eine von ihnen Greti Roffler aus Igis.
Oktober 1930. Als Greti in Zürich ankam, war ihr, als sei sie nie weggewesen.180 Beinahe vergass sie, dass sie selbst sich sehr wohl verändert hatte. In gewohntem Tempo lief sie von Laden zu Laden auf der Suche nach einem passenden Kleid für das Schlussexamen.181 Doch sie spürte die Mühen der Schwangerschaft. Zwei Tage nach der Ankunft begannen die schriftlichen Prüfungen. Von den vorgegebenen Themen entschied sie sich für Die Heiligkeit Gottes anstelle von Die Hauptsätze der liberalen Theologie. Im Fach Ethik wählte sie Die modernen Eheprobleme und christliche Ethik.182 Hier hatte sie die Gelegenheit, ihre eigene Ethik der Ehe darzulegen, die sie in den vergangenen Jahren mehr aus dem Leben als aus dem Studium entwickelt hatte.183 Mit grossem Selbstbewusstsein und einer Nonchalance, die der nachgeborenen Leserin den Atem stocken lässt, gab sie ihren persönlichen Standpunkt in der Prüfung kurzerhand als christliche Ethik aus.
Die modernen Eheprobleme und christliche Ethik.184
Als Gegenstand christlicher Ethik! Gibt es denn eine andere Ethik? Etwa eine philosophische oder eine rein praktische, spekulativ nicht begründete? Es gibt überhaupt keine andere. Jeder Versuch, die sittlichen Normen anderweitig abzuleiten als aus Gottes Willen bleibt ein Versuch, bleibt beim Warum. (…)185
Die Hauptprobleme sind wohl die Fragen: 1. Ist die Monogamie die richtige und die einzige Form für die Ehe, 2. Ist die Form unseres heutigen Familienlebens die beste?
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