Madlonne Goldschmid steht zwischen den Fronten, ratlos. «Was mache ich jetzt?» Sie bespricht sich mit ihrer Freundin Esther. «Wenn der Chefarzt dir deine Diät nicht erlaubt, trittst du aus. Und ich kündige und komme dich pflegen», schlägt diese vor und meint, was sie sagt. «Das hat mir wahnsinnig Eindruck gemacht!» Innert fünf Tagen wird die Patientin regelrecht aus dem Sanatorium geworfen, mit einer Erklärung des Chefarztes, dass sie auf eigene Verantwortung austrete und dass mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Rückfall zu erwarten sei. Sie ist sehr krank und schwach, mit zwei offenen Kavernen in der Lunge, aber nicht mehr ansteckend. Den Monat bis zum Ablauf von Esther Hofstetters Kündigungsfrist verbringt sie bei einer Freundin im Berner Oberland, im April 1959 richten sich die beiden Frauen im Neckertal SG im Ferienhaus der Familie Goldschmid ein.
Wunder über Wunder
Welche Erleichterung, das Sanatorium hinter sich zu lassen! Die ländliche Umgebung eignet sich hervorragend für die naturnahe Evers-Diät. Esther Hofstetter hält viel von Dr. Vogels Naturheilkunde und schwört auf dessen Schneckensirup-Rezept «gegen Geschwüre, Magengeschwüre, Lungenleiden, alle Bronchialkatarrhe». Die Zutaten: rote Nacktschnecken, Zucker und Malaga. Wie man die Schnecken an der Flucht aus dem Einmachglas hindert, steht nicht im Rezept. Esther trinkt solidarisch mit ihrer Patientin das tägliche Gläschen, ohne mit der Wimper zu zucken. «Wenn man sich nicht vorstellt, was man trinkt, schmeckt es recht gut, wie Likör.»
Madlonne, nominell reformiert, aber ohne religiöse Bindung aufgewachsen, beginnt in der Krankheitszeit nach Leben und Tod zu fragen. Esthers schlichter Glaube und tätige Nächstenliebe beeindrucken sie tief. «Sie hat nie missioniert. Aber natürlich wollte ich wissen, woher sie diese unerschütterliche Glaubensgewissheit hatte, und löcherte sie mit Fragen. Manchmal neckte ich sie auch wegen ihrer Heilsarmeeuniform, das liess sie sich gleichmütig gefallen.» Madlonne erholt sich zusehends. Täglich macht sie kleine Wanderungen, weiterhin am Stock. Drei Monate nach dem Austritt aus dem Sanatorium wird sie zur Röntgen-Kontrolle ins Kantonsspital Winterthur aufgeboten. Den Bericht kann sie kaum fassen: «Vollständig abgeheilt, man sieht nur noch Narben.» Ende Juli kehren die beiden Frauen dem Ferienhaus den Rücken, Esther Hofstetter sucht sich eine neue Stelle in Zürich, Madlonne Goldschmid nimmt im Atelier, wenn auch mit reduzierten Kräften, ihre Arbeit auf.
An einem sonnigen Septembersonntag findet oberhalb Stäfa im Freien ein Heilsarmeefamilientag mit Evangelisation statt. Neugierig geworden, aber mit etwas mulmigem Gefühl fährt sie hin. Die Botschaft geht ihr zu Herzen. Wie bei der Heilsarmee üblich, wird zur Bekehrung aufgerufen. «Ich mag eigentlich das Wort nicht, aber ich fand, es sei Zeit, meinem Leben eine andere Richtung zu geben. Ich müsse jetzt einfach mal ein Zeichen der Dankbarkeit setzen und nach vorn gehen.»
Die Bekehrung wird sofort ins Heilsarmeekorps Winterthur gemeldet. «Das wird registriert! Dann wirst du besucht, die lassen dich nicht aus den Augen.» So steht nach wenigen Tagen ein offizieller Vertreter der Heilsarmee vor der Tür. Wer das gewesen sei, wollen die Eltern wissen, nachdem sich der Gast verabschiedet hat – Madlonne Goldschmid wohnt noch im Elternhaus. «Das gab ein Riesentheater! Ich bringe Schande über die Familie, warfen sie mir vor. Einmal mehr hatte ich einen Weg gewählt, mit dem sie absolut nicht einverstanden waren.» Klar, dass sie sich dadurch nicht von ihrem Entschluss abbringen lässt, Salutistin zu werden. «Esther versuchte mich zu bremsen: Ich solle mir das gut überlegen. Aber ich wusste, dass die Heilsarmee mit allem Drum und Dran jetzt mein Weg war, inklusive Uniform.»
Die Lunge ist geheilt, die Multiple Sklerose aber bereitet ihr nach wie vor heftige Schmerzen. Seit sieben Jahren schon und mehr denn je. Esther Hofstetter kennt einen charismatischen Heilsarmeeoffizier, Oberst Nigg, und schlägt vor, dass Madlonne für sich beten lasse. Bei Esthers Eltern begegnet Madlonne diesem bemerkenswerten Mann. In einem kleinen Kreis von Gläubigen betet er für sie: «Er hat mir nach seiner Art die Hand aufgelegt und gebetet, leidenschaftlich, engagiert und ganz echt. Du hast gespürt, das ist ein Mann Gottes. – Weil es schon spät war, übernachtete ich bei Esther, ich schlief wunderbar tief. Am Morgen, als ich aufwachte, war etwas anders mit meinen Beinen, ein anderes Gefühl, ich verstand nicht, was es war. Dann rief Esther, ich solle mich beeilen, der Zug fahre bald. Ich stand auf und spürte meine Beine und konnte richtig laufen – ich hatte ganz vergessen, wie sich das anfühlt! Und dann bin ich auf den Zug gerannt.» Auch heute noch, nach mehr als fünfzig Jahren, staunt Madlonne Goldschmid über das, was damals geschah. «Die Heilung war von Dauer, bis heute. Ich hatte noch zweimal einen Rückfall, wohl als Folge von Impfungen, das ist schon viele Jahre her.»
Auf der Suche nach einem kontemplativen Leben
1963/64 lässt Eugen Goldschmid das baufälligen Haus am Bosshardengässchen abreissen und ein neues Geschäftshaus bauen, das «Zentrum am Neumarkt Winterthur». In den beiden obersten Stockwerken darf Madlonne nach eigenen Plänen ihr Atelier einrichten. Damit stehen ihr und ihrem Team endlich zweckmässige Räume zur Verfügung.
Allmählich finden sich die Eltern damit ab, dass ihre Tochter aktive Salutistin ist. Mutter hat ihre Meinung ein bisschen revidiert, seit eine Nachbarin zu ihr sagte: «Schön, dass das Madi bei der Heilsarmee ist! Da können Sie stolz sein!» Bald übernimmt Madlonne Goldschmid den Besuchsdienst bei kranken Heilsarmeemitgliedern im Kantonsspital. Oberschwester Dora Jost staunt nicht schlecht, als die junge Frau in der Heilsarmeeuniform sich ihr vorstellt. «Was machen denn Sie hier?!», lacht sie. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick. Von da an sind die beiden Frauen Partnerinnen. Die dreizehn Jahre ältere Dora wird Madlonne auf ihren verschlungenen Lebenswegen begleiten und ihr ein Gegenüber sein, ohne einzuengen.
Fragen an das Leben stellt sie nach wie vor. Das soziale Engagement der Salutisten ist ganz in ihrem Sinn. Aber sie sucht noch etwas anderes, mehr Kontemplation statt Aktivität, mehr Ökumene auch. Die Spiritualität der Communauté de Taizé, einer evangelischen Bruderschaft im Burgund, spricht sie an. Es bildet sich in Winterthur ein Kreis von Gleichgesinnten, der sich zu Abendgebeten nach der Liturgie von Taizé trifft, zunächst an der Werkbank im Atelier. Dann baut Madlonne mit eigener Hand den Dachboden des väterlichen Geschäftshauses zu einer kleinen Kapelle aus, während die Eltern in den Ferien sind. «Jänu», sagt der Vater mit schiefem Lächeln, als er das fertige Werk sieht, «jetzt ist das Haus aufgewertet.»
Madlonne Goldschmid, immer auf der Suche, lernt die evangelischen Schwestern von Grandchamps bei Neuenburg kennen, das weibliche Pendant zu Taizé. Ihnen fühlt sie sich sehr verbunden. Dann macht sie jemand auf die Fraternität der Kleinen Schwestern Jesu in Einsiedeln aufmerksam. Als sie die vier oder fünf Frauen besucht, ist sie tief beeindruckt. In diesem katholischen Orden leben die Frauen in kleinen Gruppen an vielen Orten auf der Welt ein ganz einfaches Leben. Solidarisch mit den Armen und Randständigen, verdienen sie sich ihren Lebensunterhalt mit gering geschätzter Arbeit wie Putzen oder Fliessbandarbeit und haben ihre Gebetszeiten. Ja, so stellt sie sich ein kommunitäres Leben vor. Ja, das könnte ihr Weg sein. Von da an besucht sie die Fraternität in Einsiedeln regelmässig.
Da flattert ihr ein Brief mit deutscher Marke ins Haus. Der Name des Absenders, Friedrich P., sagt ihr nichts. Er habe sie auf der Tagung in G. gesehen, schreibt er, und er möchte sie gerne kennen lernen. Er habe das Gefühl, sie beide würden zusammenpassen. Madlonne Goldschmid ist konsterniert. «Ich dachte, gopf, ich befasse mich mit dem Kloster und dem Zölibat – und jetzt das!» An einen Friedrich P. erinnert sie sich nicht, «aber es war wirklich ein schöner Brief».
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