Bauboom im Atelier
Die junge Frau lässt sich durch die Krankheit nicht von ihren Berufsplänen abhalten. Mutig geht sie zu den Winterthurer Architekten, stellt sich vor und sagt, sie baue jetzt Modelle. Sie stösst damit in eine Marktlücke, denn in Winterthur gibt es eine ganze Reihe von guten Architekten, aber kein einziges Modellbauatelier. Der erste Auftrag kommt 1955 von der Metallbaufirma Geilinger, das Modell der Weinlandbrücke in Andelfingen für einen Wettbewerb. «Man bekommt ein vorgefertigtes Gipsrelief und muss das Modell einfügen, teilweise auch mit Gips, damit hatte ich noch wenig Erfahrung. Ich arbeitete am Tisch in meinem Schlafzimmer, das war eine staubige und schmutzige Sache – Horror für meine pingelige Mutter.»
Geilinger bezahlt das Honorar statt mit Geld mit einer gebrauchten Baubaracke, zwei auf vier Meter, die Madi im Garten hinter dem Elternhaus aufstellen darf, die elektrische Leitung legt sie von Mutters Küche aus, ihr erstes Atelier. Laufend weitet Madlonne Goldschmid ihr Können aus, macht sich mit immer neuen Materialien vertraut, besorgt sich zum Beispiel vom Zahnarzt gebrauchte Instrumente.
Bei den Architekturbüros sind ihre Dienste begehrt, sie hat mehr als genug Aufträge. Bald fragt ein Architekt, ob seine Lehrtochter im Modellbauatelier ein Praktikum machen könne, und Madlonne Goldschmid sagt gerne zu. «Aber zu zweit in der kleinen Bude, das war schon sehr eng.» Der Vater freut sich über ihren Erfolg und bietet ihr an, dass sie in seinem Geschäftshaus am Bosshardengässchen im Estrich ein Atelier einrichten darf. Da ist nun wesentlich mehr Platz. Aber die klimatischen Bedingungen sind extrem. Im Sommer, wenn die Sonne auf das Blechdach brennt, wird es unerträglich heiss, und im Winter gefrieren die Farben. Das ist ihrer Gesundheit nicht zuträglich.
Trotzdem, sie ist in ihrem Element. Sie arbeitet viel und braucht dringend Mitarbeiter. Und weil sie eine soziale Ader hat und immer offen ist für neue Menschen, fliegen ihr allerlei junge Leute mit ungelösten Problemen zu, manche hoch motiviert, andere weniger. Marcel, der einen schwierigen Start ins Leben hatte, will unbedingt Modellbauer werden. Wer könnte dafür mehr Verständnis aufbringen als Madlonne Goldschmid? So kommt sie zu ihrem ersten Stift. Wenig später fragen Rolands Eltern nach einer Lehrstelle. Roland ist nicht so talentiert wie Marcel und gesundheitlich geschwächt. Das ist kein Hinderungsgrund für Madlonne Goldschmid. «Momoll, der darf auch kommen», sagt sie. Da sie selbst weder eine Lehre absolviert noch eine Meisterprüfung abgelegt hat, ersucht sie bei den Behörden um die Berechtigung zum Lehrbetrieb. «Sie holten Referenzen ein und schauten meine Arbeiten an und waren damit zufrieden, also durfte ich Stifte ausbilden. Mit Willi und Claude waren es insgesamt vier.»
Madlonne Goldschmid im Modellbauatelier (1958).
Immer wieder stellt sie für kürzere oder längere Zeit auch Volontäre ein. Sie ist befreundet mit Elsbeth Kriesi von der städtischen Berufsberatung. Wenn diese einen Jungen in problematischer Situation irgendwo platzieren muss, wendet sie sich an Madlonne: «Du, ich hätte wieder einen, er hat den Pfarrer in den Schrank gesperrt und ist aus der Schule geflogen. Könntest du den nicht für ein paar Wochen nehmen?» Und was sagt diese? «Momoll, der kann schon kommen.»
Hätte sie nicht bewährte, verlässliche Angestellte unter ihren Leuten, wäre die viele Arbeit nicht zu bewältigen. Bei Architekturwettbewerben, die termingerecht eingereicht werden müssen, ist der Druck riesig. Das Modell wird nach den fertigen Plänen gebaut, ist also das letzte Glied in der Kette. Ist der Architekt im Verzug mit den Plänen, geht es im Modellbauatelier hektisch zu und her. «Wir haben manchmal Tag und Nacht durchgearbeitet, damit ein Projekt rechtzeitig fertig wurde.» Insgesamt entstehen in dreissig Jahren bis in die Achtzigerjahre rund 550 Modelle: Wohnhäuser, Schulhäuser, Kirchen, Industrieanlagen und als Höhepunkt das Altstadtmodell.
Erstaunlich, dass sie mit ihrer angeschlagenen Gesundheit neben dem Geschäft noch die Kraft findet für anderes. Selber begeisterte Pfadiführerin, weiss sie inzwischen auch, was es heisst, mit körperlichen Einschränkungen zu leben. Die Idee der PTA, «Pfadi trotz allem» für behinderte Kinder, entspricht zutiefst ihrer sozialen Gesinnung. 1956 gründet sie eine PTA-Gruppe für Mädchen in Winterthur. Zehn Jahre lang leitet sie die wöchentlichen Übungen und organisiert an Pfingsten das beliebte Ritterlager im Schloss Hegi. Eine Führerin, die selber am Stock geht, das passt. Die «Pfadi trotz allem» gibt es heute noch in Winterthur, inzwischen längst für Buben und Mädchen gemeinsam.
Anfang 1958 erhält sie einen besonders schönen Auftrag. Sie darf für die SAFFA, die zweite Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit, nach vorliegenden Plänen das «Modell einer modernen Stadt» bauen. Aber es geht ihr gesundheitlich gar nicht gut. Die durchgearbeiteten Nächte, die extremen Temperaturen im Atelier setzen ihr zu. Sie fängt an zu husten und hört trotzdem nicht auf zu rauchen, stellt auf Pfeife um, weil sie denkt, das schade weniger als Zigaretten. «So etwas Dummes», findet sie hinterher, «als ob das einen Unterschied macht. Und der Aschenbecher, die Tabakkrümel, das war so unordentlich, dabei mussten wir peinlich genau und sauber arbeiten.»
Sie ist nicht die Einzige, die hustet im Atelier. Es stellt sich heraus, dass ein Mitarbeiter an offener Tuberkulose leidet. Und dass sie sich angesteckt hat.
Am Tiefpunkt
Schluss, aus, fertig. Sie muss alles stehen und liegen lassen. Am 16. Mai 1958 fahren die Eltern mit ihr nach Wald im Zürcher Oberland ins Sanatorium. In ihrem Tagebuch notiert sie: «Schwach, unsäglich schwach und elend fühle ich mich jetzt, nach einem kurzen Abschied von zu Hause. Alles ist mir gleichgültig, nur müde bin ich, entsetzlich müde.»
Da verbringt sie ihre Tage nun vor allem liegend, tagsüber oft auf der Terrasse. Die Klinik rühmt sich der nebelarmen Höhenlage, der längsten Sonnenscheindauer im Kanton und der prächtigen Aussicht auf die Alpen und den Zürichsee. Aber die Sorge um die Arbeit lässt sie nicht los. Am 17. Juni 1958, einen Monat vor der Eröffnung der SAFFA schreibt sie: «Im Bett lässt sich schlecht arbeiten. Mit Mühe zeichne ich an den Plänen fürs SAFFA-Modell, während zu Hause gebaut wird. Ferngesteuert. Ein Kränzchen meinen Freunden, die mir mit Wort und Tat beistehen!» Es wird tatsächlich rechtzeitig fertig. Im Sani aber steht die Zeit still, «der Mensch steht sich selbst leer gegenüber».
In den Fünfzigerjahren ist Tuberkulose behandelbar, die Antibiotika zeigen Wirkung: «Nach den neuesten Untersuchungen hat meine Gesundung Fortschritte gemacht. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt», jubelt Madlonne Goldschmid Ende Juli im Tagebuch.
Das Glück hält nicht lange an, denn nun meldet sich mit neuer Heftigkeit die Multiple Sklerose. Unerträgliche Schmerzen, Lähmungen, Gleichgewichtsstörungen machen ihr das Leben zur Hölle. Wahrscheinlich werden sie durch die Medikamente ausgelöst. «Nachts wanderte ich durch die Gänge, weil ich vor Schmerzen nicht schlafen konnte, immer am Stock, wegen des Gleichgewichts. Wenn ich Esther Hofstetter nicht gehabt hätte …» Die fürsorgliche Krankenschwester, die am Sonntag die Tracht mit der Heilsarmeeuniform vertauscht, hat früher selber eine TB durchgemacht. Sie strahlt heitere Zuversicht und Wärme aus und wird zur Freundin in dieser trostlosen Zeit.
Madlonne Goldschmid schreibt die Beschwerden auch der Krankenhauskost zu. Sie möchte sich wieder an die Evers-Diät halten, mit der sie bis dahin so gute Erfahrungen gemacht hat. Sie spricht mit dem Chefarzt, bietet an, die Spezialkost selbst zu besorgen und zu bezahlen, aber sie beisst auf Granit. Das komme nicht in Frage, im Sani seien sie auf die TB spezialisiert, die könne man heilen. Die MS könne man nicht heilen, damit müsse sie sich abfinden. Darauf bittet sie Dr. Evers um Rat. Die Antwort kommt postwendend. Wenn sie weiterhin mit diesen Medikamenten vollgestopft werde, sei das ihr Tod. Sie müsse sofort das Sanatorium verlassen.
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