Ja, Orsanna wartete auf Giovanni, und oft vergebens. Dann lag sie, überwach, mit weit offenen Augen in ihrer dunklen Kammer und lauschte. Hundert für einmal meinte sie, Giovannis Schritt von weitem zu vernehmen, zu hören, wie er leise die Haustüre öffne, die Treppe hinaufschleiche und bei ihr eintrete. Sie täuschte sich. Er war es nicht. Es war sonst etwas, das sich regte. Knisterte die Finsternis, wispelte der Wind draußen, tappte irgendein Tier herum? Sie wollte aufstehen und nachsehen, aber ihr war, sie sei mit jedem einzelnen Glied ans Bett gebunden, und nur ihre Gedanken könnten schweifen, wohin es sie trieb. In Schmerz und Zorn Giovanni, dem Treulosen, entgegen.
Aber sie wartete nicht allein. Giulia, die Orsannas Liebesangelegenheit als ihre eigene Sache nahm und kaum mehr an anderes dachte, wartete mit. Sie wußte, was zwischen den beiden gespielt wurde; sie erriet, was sie nicht wußte. Sie kannte die Gewohnheiten der Liebenden, denn sie huschte nachts im Hause herum und sah, ungesehen, was die beiden trieben. Sie war nicht wenig stolz, auf ihre Art bei allem dabei zu sein, und bildete sich gerne ein, die Fäden, die halte sie in der Hand, und sie sei es, die daran ziehe und die andern nach ihrem Belieben bewege. Verstand sie doch etwas von Wünschen und Wirkungen … Solange das verliebte Tun des Paares anhielt, war sie vergnügt und beglückwünschte sich selbst dazu. Doch früher als Orsanna spürte sie die langsame Wandlung in Giovannis Gefühlen. Sie kam in Sorge. Was sollte das heißen? Der Bursch entzog sich der Bargada? Orsanna wußte ihn nicht zu halten? Da mußte sie einschreiten. Mit sorgfältiger Beflissenheit machte sie sich bereit, Orsanna zu helfen. Nicht vergebens gab es allerlei erprobte Mittelchen, um widerspenstige Freier zu binden, vergehende Liebe neu entbrennen zu lassen … Sie nahm sich die Zeit zu allem Nötigen, verknotete kunstvoll roten Bindfaden und vergrub ihn auf dem Wege, wo er seine geheime Kraft dem Gemeinten entsenden konnte, legte Steine aus, mit Sprüchen geladen, versteckte hinter Bäumen am Wege Männchen aus dem Holz der alten Bargadaesche, die als kräftige Wegweiser dienen sollten. Daß dies nicht viel zu nützen schien, daß Giovanni trotzdem seltener zu Orsanna kam, wunderte sie. Es hieß also, mehr zu tun, einen Schritt weiter zu gehen. Orsanna selbst mußte Mittel anwenden.
Sie hatte sich bis dahin gehütet, der Nichte gegenüber, die schwieg, deren Liebesbeziehung zu erwähnen. Heimlich freute sie Orsannas Annahme, sie wisse von nichts. Nun aber konnte sie nicht weiter zuwarten, bis es dem Mädchen paßte, sich ihr anzuvertrauen. Als Nacht und Stunde herankamen, die Giulia als die richtigen errechnet hatte, trat sie sachte in die Kammer der Nichte, ein Licht in der einen, ein Pfännchen in der andern Hand. Orsanna setzte sich im Bett auf, mehr verblüfft als erschreckt, obwohl die Alte befremdlich genug aussah. Sie hatte ihren Rock hoch aufgeschürzt. Über ihre Beine hinunter hingen, bis auf die Füße, ein Paar ausgefranste Männerhosen. Das dunkle Kopftuch versteckte fast ihr ganzes Gesicht. Nur die spitze Nase guckte rot daraus hervor. «So gehtʼs nicht weiter», sagte Giulia ohne Einleitung. «Du mußt etwas tun.» Sie hielt Orsanna das Pfännchen hin. «Das mußt du mit ihm trinken. Er kommt heute nacht, es ist sicher.» Orsanna fühlte wie Erleichterung sie durchflutete, als habe sich in ihr plötzlich eine Schleuse geöffnet. Ohne den kürzesten Zweifel war sie für das Unternehmen der Alten gewonnen. Die Frauen sahen sich an. Da gab es nichts zu erklären, auch nichts zu verstecken. Eine Spiegel der andern, nickten sie sich gleichzeitig zu. Orsanna nahm das Pfännchen und neigte ihr Gesicht darüber. Langsam zog sie den herben Geruch der Kräuter ein. Als sie aufsah, war die Alte verschwunden.
Um diese Zeit trat Giovanni ins Haus ein. Er bemerkte den Lichtschein und blieb unschlüssig stehen. Aus Furcht, eine der Alten könnte ihn überraschen, drückte er sich hinter ein Faß, das neben der Küchentür aufgestellt war. Von hier beobachtete er das Licht. Es bewegte sich vorwärts, der Treppe zu. Doch, was war das? Was kam da die Stufen herunter? Das war kein Mensch! Das war ein Tier, mit zottigem Fell, das war die Bärin! Aufrecht ging sie, auf schweren Füßen, fürchterliche Krallen an den Zehen. Giovanni bog sich in jähem Schrecken zusammen und verbarg sein Gesicht in den Armen, sich zu schützen und nichts mehr zu sehen. Es flackerte ihm vor den Augen in roten Flammen und gelben Blitzen. Ihm schien, der Boden bebe, die Luft sei dick wie Rauch und rieche, weiß Gott, nach Schwefel. Zwischenhinein sagte er sich, er habe wohl einen Rausch, der Wein der Alda sei stärker, als man meine, er müsse sich davor hüten. Doch erst nach langer Zeit wagte er, den Kopf zu heben. Es war finster um ihn. Die Küchentüre, nur angelehnt, klappte leise auf und zu, und aus dem Keller dahinter hörte er deutlich das Gähnen, von dem die Paulina zu berichten wußte. Das Wetter wird ändern, sagte er sich, aber er glaubte nicht daran … Statt zu Orsanna hinaufzusteigen, die ihn zitternd vor Ungeduld erwartete, schlich er sich zum Hause hinaus in den Heustock, seinen Rausch auszuschlafen.
Von alledem nahmen Orsannas Eltern wenig Kenntnis. Wohl war ihnen eine Veränderung im Wesen der Tochter aufgefallen. Sie war nachlässiger bei der Arbeit, wechselte ihre Kleider häufiger, schmierte ihr Gesicht mit Schaffett ein und wütete oft arg auf dem Hof herum, eine rechte Plage für die Alten. Die Vermutung jedoch, Orsanna könnte heiraten wollen, und dazu einen so jungen Unwürdigen, wäre Tomaso nie gekommen. Eher deutete Detta das Verhalten der Tochter, in alter Weibereinsicht, als späte Sehnsucht nach Mann und Kind. Es fiel ihr auf, daß die beiden ledigen Frauen seit kurzem zusammenhielten, die Abende in Giulias Küche oder Orsannas Kammer verbrachten und viel geheimnisvoll zu tuscheln und tratschen hatten. Sie glaubte zu erraten, warum. Als sie einst einen langen, roten Zwirn aus Orsannas Tasche heraushängen sah – fast mußte sie auflachen ob der Entdeckung –, war sie ihrer Sache sicher. Aber kümmerte es sie, was da im geheimen gewünscht und getrieben wurde? Es konnte zu nichts führen. Es war im voraus verloren. Es war ganz und gar unwichtig. Wichtig allein war die Gewißheit, daß Bernardo über kurz oder lang nach Hause zurückkehren werde. Was sich daneben begeben mochte, war nicht mehr als ein Traum.
Bernardo stieg in Mailand aus dem Zug, das Herz noch geschwollen vom Abschied, aber doch voll neugieriger Ungeduld auf alles Neue, das ihn in der Stadt erwartete. Er trug in seiner Tasche einen Zettel, auf den Detta Namen und Adresse eines ihrer Vettern, der in Mailand Bauunternehmer war, geschrieben hatte. An ihn solle er sich wenden. Beladen mit dem alten Familienkoffer aus Ziegenfell und einem Handkorb voll Eßwaren, wurde es Bernardo nicht leicht, den Vetter zu finden. Der rollende Lärm der großen Stadt, die kreuz und quer verlaufenden Straßen, Gassen und Winkel, die weiten Plätze, die Arkaden, Durchgänge und Höfe verwirrten ihn. Er staunte über das Menschengewühl, die Händler, Musikanten, Bettler, die spielenden und schreienden Kinder, die schön gekleideten Damen und die eleganten Herren. Erst am Abend traf er im Vorort, wo der Vetter wohnte, ein.
Ein junges Dienstmädchen kam barfuß ihm die Türe öffnen. Es führte ihn in einen weißgetünchten, von grellem Gaslicht erhellten Raum, wo an einem großen Tisch, den Rücken gegen die Tür, ein Mann zeichnete. Er kehrte den Kopf nach dem Eintretenden um und sah ihn fragend an. Bernardo nannte seinen Namen, den er schon dem Mädchen schüchtern gesagt hatte. Nun schwang sich der Mann auf dem hohen Stuhl herum und rief aus: «Schau, der Sohn der Base Detta.» Er wollte den Jungen lang und breit von seiner Mutter berichten lassen, die er, seit sie den Talbauern geheiratet und mit ihm weggezogen war, nie mehr gesehen hatte. Als Bernardo nicht viel vorzubringen wußte, fing der Vetter mit Erzählen an. Ein schönes Mädchen sei sie gewesen, die Detta. Wenn sie von Genua, wo ihre Eltern wohnten, zu den Seinen nach Mailand zu Besuch kam, waren alle Burschen des Quartiers ganz verrückt hinter ihr her. Blumen, Ständchen, Mauerklettereien und andere Dummheiten … Einer überbot den andern, damit sie ihn ansehe, aber sie hatte nur Tomaso im Sinn, und, zum Lachen, der schien sich nicht viel aus ihr zu machen, denn er faselte nur davon, Matrose zu werden. Daß sie dann doch zusammengekommen und auf Tomasos Hof gezogen waren, wunderte den Vetter noch heute. Freilich, es hieß, Tomaso sei ein reicher Mann, Besitzer eines beträchtlichen Gutes … «Und du willst also nicht bauern?» fragte er den Jungen, aus seinen Erinnerungen auftauchend. Bernardo schüttelte den Kopf. «Warum nicht?» Ja, warum nicht? Das war nicht so schnell gesagt. Die richtige Antwort konnte er dem Vetter kaum geben. Wie sollte er ihm verständlich machen, daß es auf der Bargada nicht zum Aushalten war? Die alten Frauen, der stille Vater, er dazwischen, immer allein, von allen schief angesehen, gemieden, verpönt … Mit Recht verpönt? Was wußte er! Die Bärin, das Fenster und von was sonst im Dorf geflüstert wurde, das war wohl dummes Zeug. Aber wie vieles im Hause blieb bedrückend … unheimlich … Was wußte er!
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