1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Die Geschichte ist schnell erzählt: Jürg sucht die entscheidende Tat, die ihn zum Mann macht. Wie das Mädchen durch den Mann ent-jungfert und damit zur Frau gemacht wird, soll ihn ein Geschlechtsakt mit einer Frau ent-knaben, also zum Mann machen.
Drei Frauen stehen zur Auswahl. Marga, die holländische Baronin, scheidet aus, sie liebt Jürg nicht, sie begehrt den hübschen Jungen bloß sexuell. Beim Hausmädchen Hilde ist es umgekehrt: Jürg liebt sie nicht, begehrt sie bloß. Sex ohne Liebe gilt ihm als Schmutz. Nur mit Inge, die den jungen Poeten entsagend liebt und ihn vor einem Affektselbstmord bewahrt, zeichnet sich die Möglichkeit einer echten Liebesbeziehung ab. Sie hilft Jürg, die quälenden Minderwertigkeits- und Versagensängste zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Aber auch Inge kann Jürgs dräuende Frage nach der Bedeutung des Geschlechtsaktes nicht beantworten, ihr fehlt die Erfahrung. Jürg verreist nach Istanbul, begleitet von Inges Befürchtungen, er werde sich dort bei einschlägig tätigen Damen die nötigen praktischen Auskünfte verschaffen. Doch unterwegs kommt Jürg eine befreiende Erkenntnis: »Man wird nicht Mann durch die Frau« – bestenfalls ein »Männchen« –, entscheidend ist die große, »die männliche Tat«.74
Und das Schicksal hält sie ihm bereit: Inge erkrankt unheilbar. Von rasenden Schmerzen gepeinigt, verlangt sie die erlösende Spritze. Eine Sterbehilfe-Debatte entbrennt, doch niemand ist »stark« genug zur »wahrhaft liebenden« Tat. Erst Jürg, von Istanbul zurückgekehrt, verhilft der Kranken zur Überdosis Morphium. Die »männliche Tat« ist vollbracht, Jürg ein Mann – ohne seine Reinheit verloren zu haben!75
Jürg Reinhart wurde von der deutschen Tageskritik hochgelobt.76 Auch Eduard Korrodi pries das Werk in der NZZ vom 14. Oktober 1934. Werner Coninx hingegen fand das Buch mißlungen. Frisch berichtete in einem Brief: »Er ist ein Freund: er hat mir meinen Erstling mit Liebe zerrissen, aber so treffsicher, daß ich manchmal den Eindruck hatte, ich verstünde überhaupt nichts von Dichtung … Dreiviertel des Buches verwirft er, und ich war sehr beeindruckt, mit welcher Wahrheit und zugleich Schüchternheit er meine Anlagen und Gefahren sieht. Nicht literarisch ist sein Urteil, sondern unendlich größer: er sieht den Menschen, und wenn er mir mit freundschaftlichen und bescheidenen Worten andeutet, wo ich Stärke vortäusche an Stelle einer wirklichen Schwäche, ja, wo er die menschlichen Hintergründe einer literarischen Geste erkennt, sah ich mich selber so grell beleuchtet, so klar in meiner unglaublichen Verlogenheit, in meiner Eitelkeit, in meiner gedanklichen Nichtigkeit und meinem geistigen Hochmut, so unvergeßlich klar. Es ist schwer, einen echten Freund zu haben, wenn man klein ist und seiner bedarf; wenn man klein ist und ihm nicht gewachsen.«77
Für die Fachliteratur ist Jürg Reinhart in erster Linie ein frühes Dokument, in dem sich »Bilder und Denkmuster nachweisen lassen, auf die Frisch in späteren Jahren immer wieder zurückkommt: Etwa die Spannung zwischen Autobiographie und Fiktion, die Außenseiterposition des künstlerisch veranlagten Menschen, die hoffnungslose Sehnsucht nach Glück und Liebe, das grenzüberschreitende Gespräch zwischen Lebenden und Toten, das Meer als Bild der Freiheit und Erfülllung«.78 Biographisch interessant ist der Umstand, daß Frisch in Jürg Reinhart zum ersten Mal einen Lebensentwurf literarisch ausprobierte, den er in den Jahren danach auch zu realisieren versuchte: den Entwurf nämlich, sich als Künstler außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu verwirklichen. Dieser Versuch wurde folgenreich – und er scheiterte. Im Roman konnte er glücken, weil allerlei ausgeblendet blieb, was im Leben nicht zu übergehen war. So ist der Widerspruch zwischen Selbstverwirklichung und Lohnarbeit, dem Zentralproblem in Was bin ich?, in Jürg Reinhart kaum noch ein Thema. Geldverdienen kennzeichnet allenfalls die Mentalität der einheimischen Slawen – die feineren Herrschaften haben keine Erwerbssorgen. Es herrscht die gesellschaftliche Ausnahmesituation: Man ist in den Ferien, die alltägliche Normalität ist suspendiert.
Dieses literarische Arrangement ist von Bedeutung: Jürg Reinhart ist ein Reise- und Künstlerroman im Gewand eines Erziehungsromans. Das Schema des Erziehungsromans heißt: Ein junger Mensch gerät in eine vorgegebene Welt und reift darin durch Konflikte, Erfahrungen und Bewährung. Am Schluß paßt er in ihre Normen, ist integriert, ist erwachsen. Aber die Welt, in die Jürg hineinwachsen soll, ist nicht die Gesellschaft von 1932/34. Es ist eine versinkende, adlig-großbürgerliche Gesellschaft. Wilhelm Meister, hundertfünfzig Jahre früher verfaßt, ist ihr gegenwärtiger als die autoritär bis faschistisch gewordene Gegenwart. Jürg mäandert zwischen Illusionen aus Rousseaus ›einfachem‹ Leben, romantischer Naturidyllik und Winckelmanns Griechenideal. Der Text bestätigt zwar Frischs Entschluß, ein Künstler außerhalb der Geldverdiener-Gesellschaft sein zu wollen, aber die Bestätigung gelingt nur als Flucht aus der Lebensgegenwart in eine illusionäre Vergangenheit, aus der normalen in die Ausnahmesituation, aus der aktuellen Gesellschaft in ein rückwärtsgewandtes Utopia. Diese formale Konstruktion des Romans reflektiert den Lebensweg des Autors: Frisch hatte sich durch die Flucht in eine Künstlerreise den Zwängen der Lohnarbeit entzogen, war aus der herrschenden Gesellschaft in die fremde, ferne Welt ausgestiegen. Und nur als Aussteiger konnte Jürg/Max seinen Lebensplan als Künstler realisieren. In diesem außersozialen Rahmen ging es nur noch um die innerlich-moralische Entwicklung des Individuums Jürg/Max.
Ausstieg und Flucht haben es an sich, daß sie einmal zu Ende gehen. Die Rückkehr von der Balkanreise in die Schweiz erlebte Frisch traumatisch. Er las, erinnerte er sich später, den Grünen Heinrich von Gottfried Keller, »dem besten Vater, den ich je hatte«, und schockartig überfiel ihn die beängstigende »Vorstellung, daß das Leben mißlingen kann«.79 Zwar irrte Frisch im Datum – er hat den Grünen Heinrich nachweislich erst im Frühjahr 1938 gelesen80 –, aber die Katerstimmung dürfte authentisch gewesen sein. Vierzehn Jahre später fand er scharfe Worte für ein weiteres Rückkehr-Erlebnis ins Heimatland: »Was auffällt, wenn man draußen gewesen ist: das Verkrampfte unserer Landsleute, das Unfreie ihres Umgangs, ihre Gesichter voll Fleiß und Unlust.«81 Jürgs romantische ›Lösung‹ des Lebensproblems erwies sich angesichts der Schweizer Realität als unzulänglich, und Frisch zweifelte zunehmend, ob der freie Journalismus für ihn richtig sei. Dennoch hielt er weitere zwei Jahre an dem einmal gefundenen Weg fest und lehnte eine ihm angebotene feste Redaktorenstelle bei einer Frauenfelder Zeitung auf den Einspruch Kätes hin ab. Er besuchte, wenn auch selektiv, die Universität, schrieb am zweiten großen Prosatext82 und veröffentlichte ein bis zwei journalistische Beiträge im Monat.
Diese Beiträge werfen Schlaglichter auf Frischs damaliges politisches Bewußtsein. Die radikalen Umwälzungen nach Hitlers Machteinsetzung Anfang 1933 waren für ihn ebensowenig Thema wie die Schweizer Nationalsozialisten, die mit Bomben, Straßenschlachten und Großkundgebungen auf sich aufmerksam machten. Ihn beschäftigten Fragen wie Zuckmayers Meisterschaft, Eine Liebesgeschichte zu schreiben (NZZ vom 11. November 1934), oder er experimentierte mit der Figur des Rip van Winkle, auf die er 1932 zum ersten Mal gestoßen war,83 oder er entwickelte im Unbelesenen Bücherfreund, hinter dem sich Freund Coninx verbarg,84 Gedanken zu einer ganz und gar zeitenthobenen Poetologie. Wenn Zeitbezüge einflossen, dann in recht unkritischer Weise. Der Romanheld sei ein »deutscher Sucher seiner Selbstverwirklichung«85 , lesen wir zum Beispiel in einer Rezension von Max René Hesses Roman Morath verwirklicht einen Traum, eine »männlich ringende Seele«, die sich aus den »schlangenglatten Armen« eines verführerischen weiblichen »Mischbluts« freikämpft, um seinen »großen Erde- und Männertraum«, seine »zur Verantwortung rufenden Träume des Blutes in die Wirklichkeit zu gebären«.86
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