Dieses E-Book enthält die beiden Bände der Max-Frisch-Biografie von Urs Bircher, die gedruckt unter den Titeln Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Max Frisch 1911–1955 (1997) und Mit Ausnahme der Freundschaft. 1956–1991 (2000) erschienen sind.
Über dieses Buch
Eine Biographie über Max Frisch? Wie Dichtung und Wahrheit bestimmen bei diesem Autor? Wie die «Dorfschnüffelattitüde» (Frisch) vermeiden? Während vieler Gespräche mit Max Frisch hat Urs Bircher einen spannenden Ansatz gefunden: Max Frisch hat jede Lebensentscheidung, die ihm bevorstand, literarisch durchgespielt, um danach den gefundenen Weg einzuschlagen. So lag es nahe, Frischs Werk als ein einziges, großes Tagebuch zu lesen. Allerdings interessierten Bircher nicht ‹Schlüsseltexte›, sondern der künstlerische und intellektuelle Werdegang eines Menschen, der immer wieder in besonderem Maß sich selber befragt hat. Zum Vorschein gekommen ist ein Zeuge dieses Jahrhunderts, der, indem er sich zum Gegenstand von Literatur gemacht hat, dieses in seiner Entwicklung repräsentiert. Zum Vorschein kommen auch die heute relativ wenig bekannten frühen Jahre von Max Frisch, nicht zuletzt dank neu erschlossener Quellen.
Jahrgang 1911, beginnt Frisch künstlerisch da, wo die Avantgarde aufhört: im konservativen Antimodernismus. Mit seinem Schreiben und Denken ist er ein Kind desjenigen Geistes, der die Experimente der klassischen Moderne zum Abbruch gebracht hat. Nicht Asphalt beschäftigt ihn, sondern die «Erdfremdheit» des «überfeinerten» und «vergeistelten» Stadtmenschen. Seine frühe Poetik verbietet ihm die Verbindung von Kunst und Politik, während seine frühen Werke (erst recht) bürgerlich-konservative Ideologie der dreissiger Jahre wiederspiegeln. Aber im Gegensatz zur Mehrheit dieser bürgerlichen Elite – in die er auch einheiratet – beginnt Max Frisch sich während des Zweiten Weltkrieges aus dem national-konservativen Denken zu befreien und wird damit früh zu einem beispielhaften Intellektuellen für die später (wieder) anbrechende Liberalisierung der europäischen Gesellschaften. In einer packenden Darstellung zeigt Bircher, wie Frisch zu dem Frisch wurde, als der er berühmt geworden ist.
«Im ersten Band einer neuen Frisch-Biografie werden jetzt weitere Einzelheiten geliefert. Der Verfasser, Urs Bircher, Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, wo er 1989 die Uraufführung des letzten Frisch-Stücks ‹Jonas und sein Veteran› betreute, war als junger Mann mit den Söhnen von Käte Rubensohn-Schnyder befreundet und ging im Hause ein und aus. So konnte er jetzt aus Briefen zitieren, die Frisch in den dreissiger Jahren an seine Freundin geschrieben hat und die bisher der Forschung unbekannt waren.» Der Spiegel, Hamburg
Urs Bircher, geb. 1947, studierte Philosophie und Geschichte in Wien, Paris und Berlin. Dramaturg und Regisseur an verschiedenen deutschsprachigen Theatern und Präsident des Internationalen Theaterinstituts (ITI) Schweiz. Ab der Saison 2000/01 Intendant am Stadttheater Hildesheim. Am Schauspielhaus Zürich betreute er 1989 die Uraufführung des letzten Theaterstücks von Max Frisch, Jonas und sein Veteran (Theaterfassung von Schweiz ohne Armee? Ein Palaver). In zahlreichen Gesprächen während und nach der Produktion entstanden die Grundgedanken zu dessen Biographie.
Urs Bircher
Vom langsamen Wachsen eines Zorns
Max Frisch 1911–1955
Limmat Verlag
Zürich
Gefragt, worüber er schreibe, hätte Frisch sein Leben lang fast immer die Antwort geben können: Über mich. »Letzten Endes, wenn wir ehrlich sind, können wir nur von uns selbst aussagen«, notierte er als junger Journalist (Wir bauen eine Straße). Zwanzig Jahre später, im Stiller, reflektierte er skeptisch die Schwierigkeit, über sich selbst zu schreiben: »Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.« Und weitere zwanzig Jahre danach, in Montauk, bilanzierte er: »Ich lebe nicht mit der eigenen Geschichte, nur mit Teilen davon, die ich habe literarisieren können. Es fehlen ganze Bezirke.« – »Ich habe mich in (meinen) Geschichten entblößt, ich weiß, bis zur Unkenntlichkeit.«
Mit dem Versuch, sein eigenes Ich zu literarisieren, befand sich Frisch in bester Gesellschaft. Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert der Ich-Literatur. Die Brüchigkeit des Ichs, das Zerbrechen von Ich-Identität, die Suche nach dem Selbst, die Auflösung des Individuums, die Beschädigung, Entwertung und Entfremdung des einzelnen – unter zahlreichen Titeln reflektierte die Literatur, was in der Wirklichkeit dieses Jahrhunderts mit atemberaubender Geschwindigkeit vor sich ging, nämlich die Marginalisierung des einzelnen, einmaligen und unverwechselbaren Menschen, wie ihn die Humanisten und Aufklärer zum Maß aller Dinge erhoben hatten. Voll bitterer Ironie konstatierte Günther Anders zur Jahrhundertmitte die »Antiquiertheit« eben dieses »Menschen«.
So konsequent Frisch sich selbst und sein Leben literarisierte, so konsequent verbarg er zugleich alles nur Autobiographische. Das wirkliche Leben des Schriftstellers, so seine Überzeugung, finde im Kopf statt: »Ein großer Teil dessen, was wir erleben«, schrieb er in Ich schreibe für Leser, »spielt sich in unserer Fiktion ab, das heißt, daß das wenige, das faktisch wird, nennen wir's die Biographie, die immer etwas Zufälliges bleibt, zwar nicht irrelevant ist, aber höchst fragmentarisch, verständlich nur als Ausläufer einer fiktiven Existenz. Für diese Ausläufer, gewiß, sind wir juristisch haftbar; aber niemand wird glauben, ein juristisches Urteil erfasse die Person.« Darüber hinaus war Frisch von der besonderen Anfälligkeit der Menschen zur biographischen Selbsttäuschung überzeugt. »Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die sich mit Ortsnamen und Daten durchaus belegen lassen, so daß an ihrer Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist«, schreibt er in Unsere Gier nach Geschichten. Dieser Selbsttäuschung unterlag auch Frisch immer wieder.
Die beiden Tagebücher Frischs wurden berühmt als literarische Werke, Privates oder gar Intimes enthalten sie nicht. Viele Dokumente seines Lebens, private Briefe, Aufzeichnungen, Zeugnisse seiner Liebe zu einer Dichterin, mit der er jahrelang in leidenschaftlichen Widersprüchen verbunden war, ein journal intime zum Scheitern seiner zweiten Ehe u.a.m., sie ruhen, auf seinen Wunsch versiegelt im Safe und sollen erst im Jahr 2011 zugänglich werden.
Wer unentwegt über sich schreibt und sich zugleich unentwegt verheimlicht, muß ein gespaltenes Verhältnis zur Biographie haben. Frisch mißtraute Biographen. Ein einziges Mal verlor er im über zwanzigstündigen Gesprächsfilm mit Philippe Pilliod die Contenance: »Es ist das mit dem Autobiographischen so eine dilettantische, kunstfremde, kleinbürgerliche, langweilige Dorfschnüffelattitüde – hat er, oder hat er nicht? Eigentlich ganz unergiebig. Wird etwas exemplarisch, so ist es ganz egal, was daran autobiographisch ist.« Literatur ist Literatur, nicht camouflierte Biographie. Noch da, wo Frisch »Ich« schrieb – was nicht selten geschah – und einer Figur gar den eigenen Namen lieh, verstand er sie als Kunstfigur. Zuweilen allerdings gerieten die literarischen Verhüllungen so durchsichtig wie des Kaisers neue Kleider. Für die literarische Qualität eines Textes ist dies unerheblich, für seinen biographischen Zeugniswert nicht.
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