Wenn auch manche der frühen Texte Frischs heute schwer genießbar sind, so enthalten sie doch eine Fülle von Denkmustern, Bildern, Figuren, Motiven und Schreibhaltungen, die vorausweisen auf die späteren literarischen Texte. Vor allem aber zeigen sie, in welcher konservativen, jedem Experiment abholden Tradition Frisch zu schreiben begann; und wie groß daher der geistige Weg ist, den er im Lauf seines Lebens von dem einen Rand der Gesellschaft zum anderen zurückgelegt hat. Wer nur die literarische Qualität im Auge hat, mag die frühen Texte Frischs als Vorstufen abhaken. Wer aber die Entwicklung seines Bewußtseins verfolgen will, wird bei ihnen länger verweilen müssen.42
»Was bin ich?«
Der Schriftsteller als Antibürger (1932–1936)
Im März 1932 starb der Vater. Die Familie mußte sich einschränken. Man zog in eine bescheidene Wohnung in einem schlechteren Quartier. Max ging auf Arbeitssuche. Er sprach bei Eduard Korrodi (NZZ) vor: »Vergangene Woche ist mir der Vater gestorben. Ich habe Journalistik und Literatur studiert. Mein Studium muß ich unverzüglich abbrechen, um mich aus eigener Kraft durchzubringen.«43
Soweit Frischs Legende. Die Tatsachen waren weniger dramatisch. Faesi bot seinem Studenten ein, wenn auch bescheidenes, Stipendium an. Doch dieser zog es vor, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen und sein Studium auf jene Lehrveranstaltungen zu reduzieren, die ihn besonders interessierten: Faesi, Staiger, Muschg waren die Favoriten. Hotzenköcherles Linguistik ließ er bleiben. Das ergab zwar kein ordentliches Studium mit akademischem Abschluß, aber Frisch erhielt sich die Privilegien des Studentenlebens und gewann Zeit fürs Schreiben. Selbst nach der Exmatrikulation Ende 1934 besuchte er noch ausgewählte Lehrveranstaltungen.44 »Geldmangel und Abenteuerlust«, so gestand er später, hätten seinen damaligen Entschluß bestimmt.45
Von 1932 bis 1936 verfaßte Frisch als freier Journalist für die NZZ und andere Zeitungen46 über hundert Beiträge zu unterschiedlichen Themen. Nur zwanzig dieser Texte hat er 1976 in die Gesammelten Werke (gw) aufgenommen. Hans Mayer, der Freund und Herausgeber, betonte, Frisch habe »in keinem Fall aus inhaltlicher Erwägung: weil er etwa mit damaligen Aussagen nicht mehr übereinstimmte« einen Text abgelehnt, sondern nur »wenn es sich um schwächere Wiederholungen von Texten handelte, die ihrerseits in der Ausgabe erscheinen sollten«.47 Abgesehen von der Erzählung Antwort aus der Stille und einigen Artikeln aus den Jahren 1935/36 trifft dieses Auswahlprinzip einigermaßen zu.48 Ich werde mich daher vor allem an die in den Gesammelten Werken publizierten Texte halten, da diese allgemein zugänglich sind.49
Bei den frühen Texten handelt es sich vor allem um Rezensionen, Reiseberichte, Sportberichte (v.a. Eishockey), Reflexionen, Lokalreportagen und Kurzgeschichten. Sie sind interessant, weil sie einen weitgehend unbekannten Frisch dokumentieren, einen jungen Schriftsteller, der sich inhaltlich und stilistisch noch kaum von der damals gängigen Blut- und Bodenliteratur abgrenzte. Da ist zum Beispiel die Rede davon, wie man eine Straße »in den harten Berg zwingt«, wie »eine Wunde, so eine junge frischerdige Straße«, und mit dem Arbeitsschweiß schüttelt der Intellektuelle auch seine Selbstzweifel von der Stirn: »Schluß mit der Selbstzerlegung, die endlos und kernlos ist; wie eine Zwiebelschälerei.«50 Zugleich aber weiß Frisch auch, daß körperliche Arbeit letztlich nur »innerliche Öde« erzeugt und wahres und geistvolles Leben nur in der Stadt möglich sei. Aber geistvolles Leben ist selbstquälerisch, also schwärmt der Stadtmensch von der Ursprungsgewalt des ungebrochenen Landmenschen: »Etwas Unerwartetes in einer Welt der überfeinerten, bis zur Erdfremdheit vergeistelten, unvitalen Stadtseele: Dieser Bauerndichter, der ein Riese ist aus Frische und Erdhaftigkeit. Etwas Ursprungsgewaltiges, vor dem wir Hofmannsthalschen Claudios klein und blaß sind«, urteilt Frisch über Richard Billingers Pfeil im Wappen.51 Dichten sei »das Rauschen in der Tiefe« hörbar machen, die »Gegenstände selber zum Sprechen bringen«. Journalismus dagegen sei bloß eine »Photographie«, ein »Reiz ohne Tiefgang«.52
Man könnte seitenweise weiter zitieren, die kleine Auswahl mag genügen. Sie zeigt hinlänglich, wie erd- und heimatverbunden, konservativ und antiintellektuell der junge Dichter und Journalist in seinen Anfängen war; ein Adept seiner nicht minder konservativen Lehrer und Förderer Faesi, Staiger, Korrodi. Die Nähe zur faschistischen Literatur drängt sich auf, doch es wäre falsch, von dieser auf Frisch zu schließen. Auch die faschistische Literatur wurzelte im breiten konservativen Literaturverständnis der Zeit; sie hat die Blut- und Bodendichtung nicht erfunden, jedoch für ihre politischen Zwecke radikalisiert und instrumentalisiert.
Der eigentliche Schlüsseltext der frühen Zeitungsbeiträge ist ein kurzer Essay mit dem Titel: Was bin ich?53 Hier entdeckt der junge Journalist sein Ich als literarisches Thema. Er stellt die Frage, an deren Beantwortung er sich die nächsten Jahrzehnte die Zähne ausbeißen wird – in der Literatur, wie im Leben –, die Frage nach der eigenen Identität und, was damit zusammenhängt, nach einem sinnvollen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft: Was bin ich, und wie muß ich leben, um mich selbst zu gewinnen? Diese Frage drängte Frisch zum Schreiben, und schreibend versuchte er sie zu lösen. Er befand sich dabei in bester Gesellschaft: Die Identitätsfrage ist ein Zentralproblem der westlichen Literatur unseres Jahrhunderts.
Vordergründig literarisierte Frisch in Was bin ich? seine aktuelle Lebenssituation: Ein Student, dessen Vater gestorben ist, bricht sein Studium ab und sucht einen Broterwerb als Journalist. Der Tod hat sein soziales Sicherungsnetz zerrissen und ihn vor die Existenzfrage gestellt. Doch es geht nicht bloß um die materielle Existenz. »Geld ist zwar notwendig zum Leben, aber noch viel notwendiger ist es, zu wissen, was man denn ist und wozu man eigentlich taugt.«54 Zwischen »lächerlicher Überheblichkeit« und »lächerlichen Minderwertigkeiten« hin und her gerissen, sucht der junge Mann nach Orientierung und Selbstbestimmung. »Zum Ersäufen bin ich innerlich zu schön«, zum bescheidenen Mittelmaß jedoch zu schade. »Größenwahn und Minderwertigkeitsängste sind immer noch interessanter als die Erkenntnis: ich bin einer vom Millionendurchschnitt.« Der Exstudent möchte Dichter werden, Romane schreiben, Novellen, Komödien – ein selbstbestimmtes, schöpferisches Leben führen. Das ist die eine Seite. Doch wovon leben? »Ich muß Brot verdienen; aber ich will mich nicht lebendig begraben lassen. Da kenne ich Leute, die leben nur, um Geld zu verdienen; und das Geld verdienen sie, um leben zu können; und leben tun sie wiederum, um Geld zu verdienen. Ein Witz. Ich will aus meinem Dasein nicht einen Witz machen. Beruf soll nicht Zwangsjacke sein, scheint mir, sondern Lebensinhalt.«55 Ein sicheres Gespür sagt dem jungen Mann, daß entfremdete Lohnarbeit und ein kleinbürgerliches Angestelltendasein kein gangbarer Weg für ihn sind. Ein Künstlerleben macht Sinn, doch es stellt ihn an den Rand der Gesellschaft und macht brotlos.56 Eine Familie wäre da nicht zu gründen, denn »eine Frau … kostet Geld … eine Wohnung kostet Geld … Kinderchen kosten Geld«.57 Und wer weiß, ob das Talent für ein Künstlerleben ausreicht.58
Mit Was bin ich? fand Frisch nicht nur ein Lebensthema, sondern auch zwei typische Stilmerkmale: Die Auseinandersetzung in der Frageform – er wird sie später zu den legendären Fragebogen weiterentwickeln. Und die Schreiblist, in einer Ich-Form zu schreiben – »Mein Name ist Frisch. Max Frisch stud. phil. I«59 –, die sich autobiographisch ausnimmt und doch zugleich Kunstform ist. In den späten Texten Montauk und Schweiz ohne Armee? Ein Palaver wird er dieses Verwirrspiel auf die Spitze treiben.60
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