Es kann doch nicht so lange dauern, einen Wein aus dem Keller zu holen. Sie blickt auf die Uhr, nun steckt Uwe schon volle zehn Minuten dort unten, in seiner Effektenkammer, die Helen seit Monaten nicht mehr betreten hat.
Sie fühlt den bekannten Ärger in sich aufsteigen, und bevor der Abend im Eimer ist, bevor die Zweisamkeit in einem Fiasko landet, beschliesst sie, den Mann aus dem Keller zu holen, dieser Terra incognita für sie.
Sie kommt ihm auf der Treppe entgegen, und als Uwe sie sieht, flüstert er, dann spitzt er die Lippen zu einem «Pscht», er ist auf Zehenspitzen die Treppe hochgeschlichen, die doch sonst in der Kurve ein Knarren von sich gibt. Komm, sagt er leise, leiser geht’s nimmer, komm, ich muss dir etwas zeigen.
Hinter den Regalen mit den Klasseweinen liegt der Junge auf einem Lager aus Holzscheiten. Er schlummert selig auf der Tasche, die er mit einer alten Wolldecke gefüllt hat, um sich eine Bettstatt herzurichten. Seine Fundstücke hat er um sich herum gruppiert. Uwes Schuhe, Vaters Schuhe, diese Chimären der Vergangenheit presst er an sich wie den heiligen Gral, dessen Energie er spürt. Er lächelt im Schlaf.
Wir lassen ihn, haucht Uwe, und sie nickt.
Die beiden schleichen aus dem Abteil, als seien sie zwei Strauchdiebe, die sich ohne Skrupel in reichen Häusern bedienen. Oben nimmt der Abend dann einen gebührenden Verlauf, mit Dauerprost und verschworenen Blicken über der schmackhaften Pasta, auch der Salat und erst der Nachtisch sind nicht zu verachten. Dann stellt Uwe unvermittelt eine Frage: Wie siehst du das? Ist der Junge nun unser Kuckuckskind, oder würdest du ihn für den von den orthodoxen Juden lange erwarteten Messias halten?
Helen ist perplex. Sie hat den Mund geöffnet und haucht, also du, ich bin verblüfft, ich möchte. Bevor sie weiterfahren kann, sagt Uwe ohne irgendeine Betonung: Ich denke, da wartet eine Aufgabe auf uns, und weisst du was, er nimmt einen Schluck, holt aus mit seinem Vorzugsprädikat «göttlich», das ausschliesslich für Weine reserviert ist, bevor er fortfährt: Ich denke, diese Aufgabe ist dringender und ausserdem bekömmlicher als ein Einsatz mit dem IKRK. Sie pausiert mit offenem Mund: Woher weisst du, was weisst du, und er setzt das Glas prompt und mit ungewohntem Nachdruck auf den Untersatz.
Liebe Helen, ich bin doch nicht blind. Was du vorhast, hast du schlecht verhehlt.
Warum hast du nie etwas gesagt?
Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.
Du bist doch einer, also einer … Sie kann sich kaum erholen, dann prustet sie los. Also deinen Wittgenstein – ist doch Wittgenstein? Den kannst du dir sparen. Ich bin nämlich froh, dass es endlich heraus ist.
Es ist, als sei eine Zentnerlast von ihr gefallen, sie hat vergessen, wie klug und bedacht der Mann an ihrer Seite ist. Und wie gern sie mit ihm zusammen ist. Das ist ein Glücksmoment. Der Moment, der sagt: jetzt. Jetzt und nichts anderes. Und endlich fühlt Helen den verschütteten Humor in sich aufsteigen.
Ich denke, sagt sie entwaffnend, ein vorhandenes Kuckuckskind lässt sich wohl einfacher adoptieren als ein kommender Gottessohn.
Der Mann gegenüber räuspert sich:
Helen, von Adoption zu reden, ist viel zu früh.
Das ist Uwe, der Alte. Der, der er eben ist.
Ich weiss, lächelt sie über den Tisch. Schenk mir noch ein Glas von deinem Supergigaweissnichtwas Bordeaux ein.
Göttlich, ich kann mich nur wiederholen.
Sie kosten und schweigen. Bis Uwe sagt: Du, ich bin so froh, dass Syrien nun in die Nähe rückt, es liegt jetzt sagen wir mal in der Distanz von Schlieren oder Affoltern am Albis. Dann hält er ein, ist ja im Grunde ein zynischer Gedanke, gebe ich zu. Du wirst mir vergeben müssen.
Die Nacht ist sternenklar, als sich die beiden Arm in Arm zum Fenster hinauslehnen. Eine frische Brise fächelt sie an. Von der nahen Turmuhr schlägt es Mitternacht. Als der Klang verhallt ist, schwirrt ein Zitronenfalter herein.
Lass ihn, sagt sie zu Uwe, der findet seinen Weg. Wie der Junge. Und ich hoffe, wir finden ihn auch.
Uwe murmelt – Wittgenstein wäre wieder fällig, aber den magst du ja nicht.
Das hab ich nicht gesagt, ich meinte, ich … Uwe legt ihr zwei Finger auf den mit Lippenstift und einem Rest Dessert versalbten Mund. Dann sagt er trocken, es gibt da einiges nachzuholen, denke ich. Die Fortsetzung ist klassisch, geradezu klassisch. Mit viel Basic Instinct. Und noch mehr Zustrom aus einem verantwortungsvollen Muskel, der Herz genannt wird.
Um sechs Uhr morgens zwitschern die Vögel wie verrückt. Sie wissen, was los ist. Helen erhebt sich schlaftrunken und steigt über den königlich schlummernden Uwe hinweg. Sie greift nach dem Seidenhemd, das auf dem Stuhl übernachtet hat, sie will nach dem Jungen sehen. Das Kellerfenster steht offen, und sie erschrickt. Aber die Tasche und der Krimskrams liegen noch da, die Schuhe stehen säuberlich gepaart vor der Holzbeige. Helen atmet auf. Sie muss an sich halten, um nicht in Jubel auszubrechen und dann in Gelächter, denn der Anblick der verhassten Schuhe ist die reine Lieblichkeit. Nun sind sie ein Pfand für ein grösseres Abenteuer geworden, das ihr bevorsteht. Und sie hofft, dass auch Uwe mit von der Partie sein wird, wenn es darum geht, ein stummes kluges fremdes Menschenkind kennenzulernen. Tagtäglich.
War es tatsächlich so? Natürlich war es nicht so. Wishful thinking war’s, der Tag- und Nachttraum einer sozial Engagierten, die wider Willen bei den Grünen politisiert. Und dass sich der bestens dotierte Weinkeller eines gut situierten Paares in Bethlehems Stall verwandelt, ist des Guten zu viel. Das mit den Körpern und Seelen traf hingegen zu. Und es hatte nichts, aber auch gar nichts zu schaffen mit dem, was sich derzeit erotisch auf der Benutzeroberfläche des Digitalkosmos kräuselt. Selfies und Emojis und Blümchen und Herzchen und Softporno und Hardporno und beide mit einem Strauss Bildchen, die Minderjährige und Überfällige bloss mit der Netzhaut wahrnehmen können, falls sie darauf stossen. Dieses Paar findet sich rasch in der Tiefe darunter, dort wo sich die letzte archaische Kraft regt, die alles wegschwemmt, was sich an Ratgeberliteratur für sogenannten guten Sex sowie an therapeutischem Beigemüse auf der Haut des mitmenschlichen Umgangs ansammelt.
Doch es war der Zitronenfalter in lauer Nachtluft, den der durchgepeitschte Wissenschafter nicht ertrug. Weshalb das Vorspiel zur anstehenden Liebesnacht besonders rigoros ausfiel. Und weil das die Gefährtin kommen sah, nahm sie dem Gefährten den Wind aus den Segeln und holte zu einem Präventivschlag aus. Damit du dir nicht zu viel einbildest auf deine Verführerqualitäten, Sex ist nur das Mittel zum Zweck der Erkenntnis, wo du anfängst und ich aufhöre. Diesen heftigen Satz prustete sie ins Lavabo, mit einem Wattebausch voller Abschminke in der Hand, während ihr Uwe über den Rücken fuhr und sie, was sie mag, kräftig unter den Schulterblättern massierte.
Gut zu hören aus dem Mund einer Komforthumanistin, gab Uwe schlagfertig zurück. So eine Bezeichnung kann eine Helen Grossniklaus hingegen nicht auf sich sitzenlassen. Warte, die Antwort kommt noch und nicht zu knapp, sagte sie erregt und wütend zugleich. Und das grosse Aber, das hier folgen möchte, muss passen.
Die Antwort zeigte Wirkung. Wochen später finden wir Helen nicht im IKRK auf einer Mission in Syrien, sondern als Freiwillige in einem Durchgangsheim im Kreis 5. Neben ihrem Pensum am Gymi jobbt sie dort zwei Nachmittage in der Woche als Dolmetscherin und Coach für minderjährige westafrikanische Flüchtlinge. Der dunkle Götterliebling hat nämlich, seit er bei den Eritreerinnen wiederaufgetaucht ist, ein paar Wörter von sich gegeben. Faim, nuschelte er, dann sagte er: boire, vous-plait, und dann: il fait froid. Die Eritreerinnen freilich hegten keinerlei humanitäre Absichten, weshalb sie den Jungen in jenes Durchgangsheim einlieferten, obschon Helen ihn liebend gern zu sich genommen hätte. Das kommt nicht in Frage, sagte die grosse Eindrückliche, dieser Junge muss erst einmal unter die Leute, unter seinesgleichen, er muss erzogen werden. Dass jemand in der Nachbarschaft tuschelte, der Wunderknabe tauge nicht als Accessoire für ein Hipsterpaar, hat Helen mit wundem Herzen weggesteckt. Wie sie so vieles im neuen Job wegstecken muss. Aber das Wegzusteckende liegt hier näher bei der Condition humaine als das willfährig Falsche, die kalkulierte Heuchelei im Wandelgang der Politik.
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