Über dieses Buch
Giacometti? Das ist doch der mit den baumlangen Elendsgestalten, dem die Kunstwelt weltweit zu Füssen liegt? Bloss nicht der Student Luis K., der seine liebe Mühe damit hat. Der Sohn einer alleinstehenden Mutter, die diesen Alberto G. anhimmelt, macht sich seinen eigenen Reim auf dieses Werk und seine ungezählten Publikationen. Er gerät dabei auf eine abenteuerliche Fährte, die ihn bis nach Paris lotst; schliesslich mischt er mit einer kühnen These über G. die einheimische Kunstwelt gehörig auf.
Auch die andern Heldinnen dieses Buches sind mit einem unkonventionellen Lebensentwurf zugange, für den sie kein soziales Wagnis scheuen. Helen G., Nationalrätin der Grünen, durchmisst die halbe Stadt, um die verhassten Militärschuhe ihres Mannes loszuwerden. Laura M., die gewitzte Anwältin, die nach einer gescheiterten Passion den Rollator zum Lebenspartner ernennt, macht mit einer Entführung aus einem Alters und Pflegeheim Furore. Und der plötzliche Abgang der beliebten Dozentin Claire H. setzt eine Hausgemeinschaft in Aufruhr.
Rasant und packend erzählt Isolde Schaad von den modernen Gangarten in der grossen Kleinstadt und würzt sie mit Betrachtungen aus der Fussgängerpassage.
Foto Ayşe Yavaş
Isolde Schaad, geboren 1944 in Schaffhausen, lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Zürich. Zahlreiche Studienaufenthalte in Ostafrika, Nahost, Indien. Gastautorin einer amerikanischen Universität. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Limmat Verlag sind neun Bücher von ihr erschienen, zuletzt die Romane «Keiner wars» und «Robinson und Julia», der Essayband «Vom Einen. Literatur und Geschlecht. Elf Porträts aus der Gefahrenzone» sowie der Erzählband «Am Äquator. Die Ausweitung der Gürtellinie in unerforschte Gebiete».
Isolde Schaad
Giacometti hinkt
Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte
Erzählungen
Limmat Verlag
Zürich
Wohin gehen wir?
Nicht immer nach Hause.
Frei nach Novalis
Losgeworden. Los geworden
Da stehen sie, Wiedergänger eines Jahrhunderts, dessen Hauptwort Vernichtung war. Was tun sie hier? Militärschuhe vor dem Küchenblock aus Chromstahl, auf Jadeschiefer, dem coolen Bodenbelag in der neulich erworbenen Eigentumswohnung, die sie mit Uwe teilt, eine Faust aufs Auge ist das. Der Aktivdienst, aus dem solche Schuhe stammen, hat auf Jadeschiefer nichts zu suchen, nobler Schiefer verträgt keinen Schandfleck. Sie hat Uwe den heiklen Bodenbelag abringen müssen, das ist harte Arbeit gewesen.
Der blosse Anblick kommt im Befehlston daher. Sie hört den Tritt mit. Immerhin keine Springerstiefel, das nicht. Helen nimmt einen der zwei hartgegerbten Klumpen in die Hand, spuckt darauf, bevor sie den Lappen ergreift und leicht reibt, dann lässt sie den Fremdkörper wieder sinken. Schuhe wie Bollwerke, Angriff und Verteidigung. Schuhe, die in den Krieg aufbrechen, wollen keine Pflege, sie haben anderes vor, und deshalb muss man sie so rasch als möglich entsorgen.
Dass der Aktivdienst, diese Stammtischfloskel selbstgerechter alter Männer, endgültig vergangen sei – Helen legt den Kopf in Schräglage –, leider ist das eine Wunschvorstellung einer künftigen IKRK-Delegierten, von der Uwe noch nichts weiss.
Wenn sie Anatomie büffelt, deren Grundbegriffe für das Aufnahmeverfahren notwendig sind, schliesst sie die Tür zu ihrem Zimmer.
Aber die alten Männer, die damals junge Männer waren, konnten doch nichts dafür, dass sie einrücken mussten, raunt das Alter Ego, doch Helen wischt den Störenfried mit einer Handbewegung fort. Die Generation der Vorvorväter hat diese Schuhe an die Füsse ihrer Armeen diktiert, und die Väter mussten sie dann auf die Zielgerade setzen, eine Strategie als Vermächtnis des konventionellen Krieges nach Clausewitz. Davon will doch heute niemand mehr etwas wissen, nicht mal der bauernschlaue oberste Soldat im Bundesrat.
Mach dir nichts vor, Helen, raunt das Alter Ego. Wer regelmässig die «Tagesschau» konsultiert, weiss, dass dieser Krieg bloss verlagert wurde. Auf den Trikont. Dorthin, wo die Söhne der ehemaligen Untertanen der Kolonialmächte diese wüste Epoche Europas an den Füssen mitschleppen. Alle paar Jahre treten sie erneut in Aktion, etwa auf einer Hochebene Afghanistans, in einer Steppe des Iraks und jetzt in Aleppo, Homs und Mossul und weiteren Brandherden des Nahen Ostens.
Was fand Uwe bloss an diesen Schuhen. Man konnte mit ihnen lediglich marschieren, nichts anderes als marschieren, weder bummeln noch flanieren, schon gar nicht spazieren. Im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts war dieses kriegerische Relikt nach Europa zurückgekehrt, in den Balkankrieg. Es war ein Schock gewesen, als der grüne Joschka, ausgerechnet der ehemalige Friedensaktivist, als deutscher Aussenminister mit den Wölfen heulte, die zum Bombardement bliesen. Mit den Franzosen, den Engländern und den Amerikanern. Mit flotten Grüssen aus Sarajewo.
Mit dem Krieg spielt man nicht, hatte Mutter gesagt, als die Zinnsoldaten aus der Kaserne stolzierten, das Lieblingsspiel ihres kleinen Bruders, wenn er bei den Grosseltern zu Besuch war, zu Hause war das verpönt. Mutter war eine Reformpädagogin, daher gab’s daheim ausschliesslich reformpädagogisch korrektes Spielzeug, Baukasten, Puzzles, Memory und Kügelibahn aus Holz. Als sei Holz das Gute an sich.
Feige, du bist feige, wenn du nicht fragst, wo warst du, Adam. In etwa so hatte sie Heinrich Böll als Teenager gelesen; freilich war Uwe noch lange nicht geboren, als sein Vater einrücken musste. In die Wehrmacht? Oder war’s gar die berüchtigte Waffen-SS?
Helen schreckt aus einem düsteren Tagtraum. Bloss weil Uwe, ihr Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist, Militärschuhe vom Estrich geholt hat? Er wollte in ihnen nämlich die Greina überqueren. Die Wanderung war für den kommenden Sonntag vorgesehen. Sie hat ihn nie nach der Herkunft dieser Schuhe gefragt, und jetzt fiel ihr wie Patronen von den Augen, dass sie nichts von Uwes Vorgeschichte wusste, gar nichts.
Noch immer starrt Helen auf dieses Stück Wehrhaftigkeit, mit der sie auf keinen Fall unterwegs sein will. Sie packt die Schuhe, öffnet eine Türe und schleudert die im Grunde redliche Hässlichkeit in den Stauraum, ein befreiender Akt.
Helen dann im Wohnraum am langen Glastisch, barfuss auf Jadeschiefer, das tut gut, wenn man ratlos ist. Mit den Fusssohlen die Unruhe wegscheuern, das hilft. Sie stützt die Ellbogen auf und verschränkt die Hände über der Stirn. Bisher war das kein Thema gewesen, nicht der geringste Konfliktstoff zwischen ihnen. Dass Uwe Deutscher war.
Er würde sie auslachen, du ins IKRK? Dafür bist du doch viel zu alt, mein Schatz. Und sie würde trotzig erwidern, dann wird sich zeigen, ob diese vielgepriesene Jugendlichkeit, die mir dauernd attestiert wird, etwas taugt. Sie ging in ihr Zimmer, nahm das Fotoalbum aus dem Regal. War wieder das kleine Mädchen, das diese Schuhe im Korridor des Elternhauses stehen sah und entsetzt rief: Paps, musst du in den Krieg? Uwes Schuhe sahen genau so aus wie jenes Paar, das die Mutter am Vortag einfettete, wenn der Vater einrücken musste. Nein nein, Paps muss bloss zur Inspektion. Beschwichtigte sie, um das Kind zu beruhigen, das nachts aus dem Schlaf aufschreckte und schrie, weil es die Kriegsbilder aus dem Nachbarland hatte sehen wollen. In einer Mappe, die ein ausländischer Besuch hinterlassen hatte, es waren scharf konturierte Schwarz-Weiss-Fotos. Während die Siebenjährige die deutsche Katastrophe betrachtete, lief im Radio Ravels «Bolero». Seither konnte Helen diese Musik nicht mehr hören, ohne dass Ruinenstädte auftauchten, finstere Bauten hinter Stacheldraht, Wachtürme und stehende Waggons, vor welchen Häftlinge herumfuhrwerkten, wozu, war ihr schleierhaft. Im Nachhinein staunte sie über ihre Mutter, die Reformpädagogin, die keine Zinnsoldaten als Spielzeug duldete, wohl aber den Anblick dessen, was man kleinlaut als Zivilisationsbruch bezeichnet hat: die Vernichtungsmaschinerie des Naziregimes. Helen dachte mit Wärme an sie, die seit langem tot war. Sie war eine mutige Frau gewesen, vollkommen unsentimental in der Erziehung, hatte ihre Kinder früh konfrontiert mit den Greueltaten, zu welchen Menschen fähig sind. Du kannst mich immer fragen, wenn du etwas auf dem Herzen hast, Helen hat diesen Satz noch im Ohr. Aber die Erstklässlerin fragte nicht. Es gab zu diesen Bildern, hinter welchem sie das Schlimmste witterte, keine Fragen, ausgenommen die eine, unbeantwortbare: Warum?
Читать дальше