Analogie zu Joh 20,30
Die Vermutung, dass er sich dieses ähnlich vorgestellt hat wie der Evangelist in Joh 20,30 f., ist freilich nahe liegend, aber kann man ihm dies zum Vorwurf machen, wenn die Geistesgeschichte noch lange Zeit bis zur Erkenntnis der grundsätzlichen Zufälligkeit alles Historischen gebraucht hat? Ansätze zu dieser Erkenntnis finden sich freilich schon im Neuen Testament (vgl. Mt 12,27 f., aber auch Betz / Riesner 194, die die Zufälligkeit alles Historischen auf ein „mit dem heilsgeschichtlichen Denken der Bibel unvereinbares philosophisches Vorurteil“ zurückführen). Und wird der Glaube schon an die eigene Tätigkeit des Menschen ausgeliefert, wenn ein Schriftsteller die Basis-Erzählungen seiner religiösen Bewegung in eine Form bringt, die den Erfordernissen seiner Zeitgenossen entspricht, die nun einmal auf „Historisches“ aus sind? Man vergleiche dazu nur, wie Josephus versucht, für sein Volk den Anschluss an die Geschichte zu gewinnen (CAp I 1). Die Absicht des Lukas könnte es durchaus sein, allein dieser Tendenz nach Historischem zu genügen, weswegen man auch nicht unbedingt nach Gerüchten über die Christen und Kritik an ihnen als Anlass für die Arbeit des Lukas suchen muss.
Notwendigkeit des lukanischen Unternehmens
Aus dem Vorwort ergibt sich des Weiteren, dass nach Ansicht des Lukas aus den von ihm erwähnten Vorgängerwerken diese Sicherheit nicht zu gewinnen war. Insofern solche historische Zuverlässigkeit aber nach Ansicht des Lukas für den Glauben in der hellenistischen Welt notwendig ist, ist das von Lukas in Angriff genommene Unternehmen für seine Umgebung zwingend erforderlich.
2.2 Das Verfahren des „Historikers“ Lukas
Anspruch und Wirklichkeit
Ein Problem besteht nun freilich darin, dass Lukas diesen in seinem Vorwort ausgedrückten Anspruch im Innern seines Werkes in keiner Weise einlöst.
Zwar verbessert er seine Vorlagen, kürzt sie auch und stellt gelegentlich größere Zusammenhänge her, aber dass er systematisch, womöglich aufgrund von Nachforschungen, Verbesserungen an seinen Quellen im Hinblick auf deren größere historische Genauigkeit vornimmt, ist nicht feststellbar, es sei denn, man begreift die Auslassung eines erheblichen Teiles des Markusstoffes als solche. Aber allein die Art und Weise, wie er mit der eschatologischen Botschaft Jesu umgeht, spricht in keiner Weise dafür, dass dies auf einer sorgfältigen Nachforschung bis zu den Ursprüngen beruht oder dass diese auch nur beabsichtigt ist. Entgegen den Ausführungen im Vorwort verhält er sich im Innern seines Werkes keineswegs anders als seine Vorgänger.
Zwar lassen sich eine ganze Reihe von Umstellungen und Auslassungen gegenüber dem Markusevangelium beobachten, aber auch die Gründe dafür sind in der Regel erkennbar, und diese sind schriftstellerischer und nicht historischer Natur. Man kann das sehr schön an der Perikope von der Verwerfung Jesu in seiner Vaterstadt (4,16–30 par Mk 6,1–6) sehen, die Lukas in Abweichung von seiner Markusvorlage zu einer programmatischen, das öffentliche Wirken Jesu eröffnenden Szene umgestaltet hat, in der sich das Wirken Jesu und sein „Erfolg“ bereits abschattet. Es spricht nichts dafür, dass Lukas für diese redaktionell gestaltete Szene an dieser Stelle eine konkrete Nachricht hatte, vielmehr weist alles darauf hin, dass Lukas diese Szene hierher gestellt und selbst gestaltet hat, weil er sie für die Eröffnung des öffentlichen Wirkens Jesu für besonders geeignet hielt. Nicht eine geschichtliche Nachricht, sondern die schriftstellerischen Ziele des Lukas sind der Anlass für diese Szene. Dieses Verfahren – Lukas richtet sich nach schriftstellerischen Notwendigkeiten und nicht nach seinen Quellen – lässt sich auch sonst in seinem Werk häufig beobachten und zeigt, dass die Beschreibung der lukanischen Absicht im Prolog nicht im Sinne eines heutigen Historikers missverstanden werden darf.
Lukas ist der einzige Evangelist, der sein Werk nach Art der antiken Schriftsteller mit einem Prooemium eröffnet, in dem er seine Absicht erläutert. Indem er mit seinem Werk für Theophilos, dem er das Werk widmet, die Zuverlässigkeit der Lehre erweisen will, will er nicht den Glauben an die Historie ausliefern und begreift er das Jesusgeschehen auch nicht als ein ausschließlich der Vergangenheit angehörendes Ereignis, sondern begreift das Jesusgeschehen als konstitutiven Teil der Ereignisse, die sich als Erfüllung der Schrift ereignet haben.
3. Der Verfasser des Lukasevangeliums
Sehr auffällig ist die Tatsache, dass Lukas trotz seines literarisch ausgefeilten Vorwortes seinen Namen in diesem nicht preisgibt, obwohl an sich die Nennung des Namens durchaus zum Stil des Vorwortes gehört. Deswegen sind wir für die Rückfrage nach dem Verfasser zunächst ausschließlich auf innere Kriterien angewiesen. Allerdings kann dazu auch die Apostelgeschichte herangezogen werden, da diese vom selben Verfasser stammt (zur Begründung s. unten § 8 Nr. 3.1)
3.1 Ein Verfasser der dritten christlichen Generation
Juden oder Heidenchrist?
Schon aus dem Vorwort geht hervor, dass der Verfasser des Lukasevangeliums nicht den Anspruch erhebt, Augenzeuge des Jesusgeschehens zu sein, sondern der zweiten oder eher der dritten Generation angehört. Da Sprache und Stil der lukanischen Werke auf einen gebildeten ► Hellenisten hinweisen, konzentriert sich die Frage nach dem Verfasser zunächst darauf, ob es sich um einen Judenoder einen Heidenchristen handelt.
Ambivalente Argumente
In der Regel wird für die Entscheidung dieser Frage einerseits darauf hingewiesen, dass der Verfasser mit dem Alten Testament in seiner griechischen Übersetzung sehr vertraut und von dessen Sprache geprägt ist, durchaus ein gewisses Interesse am Gesetz, den Propheten und Jerusalem hat, dass er den Synagogengottesdienst korrekt zu beschreiben in der Lage ist (Lk 4,16–30; Apg 13,14–41) und über zahlreiche, aus judenchristlichem Milieu stammende Sondertraditionen verfügt (Lk 1–2; 17,11–19; 18,9–14). Andererseits gibt es aber wichtige Argumente, die für einen Heidenchristen sprechen: Lukas vermeidet semitische Begriffe, hat kein Interesse an Auseinandersetzungen um kultische Fragen, kennt sich in der Geographie Palästinas nicht aus (17,11), und die typisch jüdische Sühnevorstellung tritt stark zurück. Das Ergebnis dieser Argumentation ist dann in der Regel ein Heidenchrist mit Kontakt zum Diasporajudentum als Autor des dritten Evangeliums, wenn der Verfasser nicht weitergehend sogar zu dem Kreis der Gottesfürchtigen im Umfeld der Synagoge gezählt wird.
Die Lage ist naturgemäß doch komplexer, als sie bei solcher Zusammenfassung erscheint. Lukas hat z. B. durchaus jüdische Termini nicht nur gestrichen bzw. durch griechische Termini ersetzt (Rabbi, Rabbuni, Kananäer), sondern auch beibehalten. So begegnet Beelzebul bei Lk genauso häufig wie bei Matthäus, aber häufiger als bei Markus, für Mammon lauten die Zahlen: Matthäus 1, Markus 0, Lukas 3, für gehenna Matthäus 7, Markus 3, Lukas 1 und für Satan Matthäus 3, Markus 5, Lukas 5 Belege. Ebenso überliefert Lukas durchaus eine ganze Reihe von Perikopen, die von Gesetzes- und Reinheitsproblemen handeln (vgl. nur Mk 2,23–3,6 parLk), und dass Geographie-Kenntnisse als Argument kaum zu verwenden sind, haben wir schon beim Markusevangelium gesehen (s. dazu oben § 5 Nr. 3.2.2).
Dennoch gehen die oben genannten Argumente in die richtige Richtung, weisen doch die Sprache und die hellenistische Bildung des dritten Evangelisten auf einen in der Diaspora Geborenen hin. Die Tendenz zurReduzierung jüdischer Fragen und Ausdrücke, die sich ja sicher auch der fortgeschrittenen Entwicklung des „Christentums“ und seiner Bewegung vom Judentum fort verdankt, könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Verfasser eher aus dem Heiden- als aus dem Judentum stammt. Dass dies „mit Sicherheit“ gesagt werden kann, scheint mir jedoch eine Übertreibung zu sein – die mangelnde Kenntnis der Geographie Palästinas und die Reduzierung der semitischen Fragen und Begriffe geben diese Sicherheit nicht her. Das gleiche gilt freilich erst recht für die neuerdings wieder vereinzelt vorgetragene Ansicht, Lukas sei ein Judenchrist aus der Diaspora.
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