Da jedoch auch die Urmarkus-Hypothese nicht in der Lage ist, diese kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus im mit Markus gemeinsamen Stoff, zu erklären und zudem das Urmarkus-Exemplar des Lukas von dem des Matthäus noch abgewichen sein muss, wenn die Urmarkushypothese das Fehlen von Mk 6,45–8,26 nur bei Lukas erklären soll, verzichtet man besser auf die Annahme dieser weiteren Unbekannten.
Dasselbe gilt, wenn man statt eines Urmarkus als Vorlage für die ► Seitenreferenten einen sog. Deuteromarkus, also eine veränderte Neuausgabe des Markusevangeliums, annimmt. Auch dessen Annahme hat sich, obwohl sie immer wieder und aufgrund des vehementen Eintretens von A. Fuchs vertreten wird, bislang nur gelegentlich durchsetzen können (s. dazu § 3 Nr. 6.2).
10. Die Sprache des Markusevangeliums
Der Zuschreibung des Werkes an einen gottesfürchtigen Frommen aus der Umgebung einer Synagoge widerspricht auch die Sprache des Evangeliums nicht. Wie schwierig das Griechisch des zweiten Evangeliums zu beurteilen ist, kann man an der unterschiedlichen Beurteilung seiner Sprachfertigkeit erkennen.
Unterschiedliche Beurteilungen der Sprache des Mk
Auf der einen Seite kann der Autor aufgrund seiner aus den Übersetzungen erschlossenen Hebräisch-/Aramäisch-Kenntnisse und mancher Eigenarten seines Sprachgebrauchs als in Palästina geborener Jude deklariert werden, andererseits kann er aber auch wegen seines im übrigen doch einigermaßen flüssigen, wenn auch gelegentlich als barbarisch bezeichneten und doch wiederum der Übersetzung der ► Septuaginta überlegenen Griechisch als schon lange in der griechisch sprechenden Diaspora lebend angesehen werden.
Nun finden sich aber eine ganze Reihe von Eigenarten des markinischen Griechisch durchaus auch in nicht semitisch beeinflusster Volksliteratur, und als semitisch beeinflusst geltende Sprach-Merkmale des zweiten Evangeliums lassen sich in nicht geringer Zahl ebenfalls in dieser Literatur nachweisen. Sprache, Komposition und inhaltliche Bearbeitung des Evangelien-Stoffes durch Markus sind im Verhältnis zum sicher nicht semitisch beeinflussten ► Alexanderroman sogar als feinfühliger und geschickter bezeichnet worden. Von daher ist die Zuschreibung des Markusevangeliums an einen Autor semitischer Muttersprache keineswegs mehr so sicher wie einige Zeit angenommen. Dies gilt umso mehr, als andere Autoren der Meinung sind, ein längerer Aufenthalt des Markus in Palästina genüge, um die Übersetzungen und Anklänge an ► Semitismen zu erklären, zumal wir auf die Notwendigkeit solcher Übersetzungen auch schon in der vormarkinischen Tradition hingewiesen haben.
Die Sprache des Evangelisten wird in der neueren Literatur als einheitlicher angesehen als früher, wo man noch die Zuversicht hatte, zwischen der Hand des Evangelisten und seinen Quellen unterscheiden und sauber zwischen Redaktion und Tradition trennen zu können.
Der Evangelist und seine Quellen
Diese Zuversicht kommt der Forschung aus mehreren Gründen immer mehr abhanden. Das hängt zum einen mit den großen Differenzen der Ergebnisse solcher Scheidungsversuche, zum anderen mit der Hoffnung zusammen, die synchronische Betrachtung des Textes werde einhelligere Ergebnisse liefern als die diachronische. In letzterer Hinsicht darf man sehr gespannt sein. Aber auch das Verhältnis des Autors zur mündlichen Tradition wird in der neueren Literatur anders beurteilt als zu Zeiten der klassischen Formgeschichte. Die mündlichen Erzählungen werden bei weitem nicht mehr als so fest in ihrer Form angesehen wie damals und dementsprechend die sprachliche Formung durch den Evangelisten weit höher angesetzt. Ob dem nicht unsere Überlegungen über das Mitschleifen der Übersetzungen hebräisch-aramäischer Termini widersprechen, wird weiter zu prüfen sein.
Die Sprache des Evangelisten spiegelt zwar einen gewissen semitischen Einfluss, aber dieser geht nicht so weit, dass man daraus mit Sicherheit auf einen Judenchristen als Autor schließen könnte.
11. Die theologische Absicht des Evangelisten Markus
Hauptintention: die Christologie
Die primäre Aussageabsicht des markinischen Werkes ist christologisch, so dass die Abschreiber, die schon früh dem Initium „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (1,1) die Ergänzung „dem Sohne Gottes“ anfügten, durchaus in der Linie der markinischen Absichten blieben, wenn der Titel im Initium nicht ursprünglich sein sollte. Es geht um ein zutreffendes Verständnis Jesu, von dem Markus an markanten Stellen seines Werkes als Sohn Gottes spricht, dessen Bedeutung aber allein mit diesem Titel keineswegs schon zutreffend und umfassend umschrieben ist.
Sohn Gottes
Selbst der Titel „Sohn Gottes“ allein ist noch missverständlich, da dieser nach Ausweis der von Markus übernommenen Traditionen schon in der Kirche des ersten Jahrhunderts unterschiedlich verstanden wurde. Dieser und andere Titel konnten in der Tradition mit Wundergeschichten verbunden werden, die Jesu Würde als Gottessohn oder Davidssohn / Messias zum Ausdruck bringen. Dieses Verständnis lehnt Markus nicht ab, aber er hält es für außerordentlich missverständlich und ergänzungsbedürftig, weswegen er dieser ► theologia gloriae eine weitere Dimension hinzufügt, die des niedrigen und notwendig ins Leiden gehenden Jesus.
Der Jesus der Wunder und der Jesus des Leidens gehören für den Evangelisten untrennbar zusammen. Eine einseitige Betonung nur einer dieser zwei Seiten wird dem Jesusereignis nach Ansicht des Markus nicht gerecht. Zu einem angemessenen Verständnis Jesu gehört dessen ganzes Schicksal.
Wie nicht nur einTitel genügt, um den Glauben an Jesus zutreffend zum Ausdruck zu bringen, und Jesus deshalb in allen Evangelien, nicht nur bei Markus, eine ganze Reihe von Heilbringertiteln erhält, so können diese Titel unterschiedliche Inhalte umfassen, die nach Markus beim Titel Gottessohn zusammengehören und nicht getrennt werden dürfen.
11.1 Das Messiasgeheimnis
Bekenntnis vs. Schweigegebote
Um freilich sein genaues Verständnis dieses Jesus deutlich zu machen, ist Markus Wege gegangen, die bis heute für uns nicht ganz durchschaubar sind. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts spricht man über das von W. Wrede so genannte „Messiasgeheimnis im Markusevangelium“, womit der auffällige Widerspruch zwischen offenem Bekenntnis der messianischen Würde Jesu z. B. durch die Dämonen und das sich anschließende Schweigegebot von Seiten Jesu oder der Zusammenhang zwischen Jüngerbekenntnis und Schweigegebot in Mk 8,27–33 gemeint sind.
Eine theologische Konstruktion
Dass es sich hierbei um eine Konstruktion und nicht um die exakte Wiedergabe einer historischen Einzelheit handelt, wird schon bei der Perikope vom Töchterlein des Jairus deutlich, wo zunächst der Tod des Mädchens sozusagen vom ganzen Dorf beklagt und im Anschluss an die Totenerweckung von Jesus die Weisung erteilt wird, niemandem etwas davon zu erzählen (Mk 5,22–24.35–43).
Die Komponenten des Messiasgeheimnisses
Im einzelnen sind im Zusammenhang mit dem Messiasgeheimnis folgende Komplexe zu unterscheiden:
(a) das Verbot bei manchen Wundergeschichten, das Wunder weiter zu erzählen (5,43;7,36) – dazu gehört auch, dass dieses Verbot z. T. übertreten wird, vgl. 7,36 und 1,44 f.,
(b) das Wissen der Dämonen um Jesu besondere Würde und der dazu gehörige Schweigebefehl (1,25.34;3,12),
(c) Das Wissen der Jünger um die besondere Würde Jesu und das Schweigegebot (8,27–30;9,9) einerseits, das Unverständnis der Jünger gegenüber den Worten Jesu andererseits (4,13; 8,14–21),
(d) Die Parabeltheorie (4,10–12, siehe dazu 11.2)
11.1.1 Das Wissen um die besondere Würde Jesu und die Schweigegebote
Die ersten drei Komplexe kommen darin überein, dass die Verbreitung entweder eines christologischen Hoheitstitels, der von den Dämonen (5,43;7,36) oder den Jüngern (8,27–29) zur Sprache gebracht wird oder auf andere Weise bekannt wird (9,2–9), oder dass die Verbreitung eines von Jesus vollbrachten Wunders untersagt wird.
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