Das dritte Kapitel Militäralltag und Ablösungsdienste widmet sich der zentralen Frage, wie sich der eingangs problematisierte kriegslose Kriegszustand auf die Wehrdienstleistungen der Schweizer Soldaten auswirkte. Anfang August 1914 waren insgesamt 238 000 Mann unter Waffen getreten, die ersten Dienstwochen danach standen atmosphärisch ganz im Zeichen des eben erfolgten Kriegsausbruchs. Im Herbst 1914 wurden jedoch bereits beträchtliche Truppenkontingente entlassen; es ging darum, den Grenz- und Neutralitätsschutz mit einem minimalen Kräfteansatz sicherzustellen und die Wehrmänner ansonsten wieder der Wirtschaft des Landes zur Verfügung zu stellen. Damit ging die Schweizer Armee dazu über, ihre Truppenkörper und Verbände nach einem fortlaufend angepassten und auf die jeweilige Bedrohungslage ausgerichteten Rotationsmodus aufzubieten und wieder zu entlassen. So standen im Frühjahr 1915 beispielsweise nur noch knapp 60 000 Mann unter Waffen, im November 1916 waren es gar nur noch 38 000 Mann, im Frühjahr 1917 dafür wieder gut 100 000 Mann und im November 1918 betrug die aufgebotene Truppenstärke während des Landesstreiks etwa 110 000 Mann. 28Wie Marco Jorio kürzlich in Erinnerung rief, leisteten die Soldaten des Auszugs pro Jahr im Schnitt drei bis vier Monate, diejenigen der Landwehr noch etwa zwei Monate und jene des Landsturms nur etwa einen Monat Militärdienst. 29Insgesamt standen die Soldaten des Auszugs während des Krieges in mehreren sogenannten Ablösungsdiensten etwa 500 bis 600 Diensttage lang unter Waffen. Wie nun Jorio mit seinem Beitrag «Ringsum Kanonendonner braust. Die Zuger Soldaten am Rande des Sturms» und Dieter Wicki mit seinem Artikel «Alltagsgeschichte und Erinnerungskultur mit Blick auf Aargauer Soldaten» bildhaft herausarbeiten, trugen diese regelmässig wiederkehrenden Ablösungsdienste und die grundsätzlich generöse Beurlaubungspraxis massgeblich dazu bei, dass Mannschaften wie Offiziere den Aktivdienst von 1914 bis 1918 ganz wesentlich als eine Abfolge gewissermassen längerer Wiederholungskurse erlebten und damit den mindset der Instruktionsdienste der Friedenszeit unweigerlich auf die Wehrdienstleistungen der Kriegsjahre übertrugen. Die beiden Fallstudien heben deutlich hervor, dass der Krieg in der Regel für die Schweizer Soldaten doch sehr weit weg war. Entsprechend beklagten die Offiziere wiederholt die «Wiederholungskursmentalität» der Truppen, ohne jedoch selbst gegen diese Entwicklung immun gewesen zu sein. Die geistige und physische Abwesenheit der Kriegsrealitäten prägte augenscheinlich die Einstellung der Soldaten zum Wehrdienst, wenn diese zwischen «nützlichen Arbeiten» beispielsweise zum Festungsbau oder zur Unterstützung der Grenzwachtorgane und «unnützen Tätigkeiten» wie der Gefechts- und natürlich der Drillausbildung zu unterscheiden begannen. Hier können durchaus als zivilistisch zu interpretierende Dienstauffassungen beobachtet werden, die kaum darüber reflektierten, warum Drillausbildung für das militärische Funktionieren einer Truppe auf dem modernen Gefechtsfeld des Weltkrieges hätte notwendig sein können. Desweitern fällt auf, dass entgegen den althergebrachten Überlieferungen die Ablösungsdienste zwischen 1914 und 1918 nicht durchgehend von drastischer militärischer Härte geprägt waren. Wie Dieter Wicki ausführt, verfügte die Truppe normalerweise über ein anschauliches Mass an Freizeit, die eigentlichen Arbeitszeiten waren, wie im Ausbildungsbefehl des Generals von 1914 festgehalten, häufig auf die Morgenstunden begrenzt. 30Nicht nur Gewehrgriff und Taktschritt prägten entsprechend den Aktivdienst der Truppe, sondern eben auch Zerstreuung, Unterhaltungsprogramme, der Besuch der Gasthäuser und die anstehende Beurlaubung. Wie neuere Truppengeschichten zeigen, waren ausserdem gewisse Ablösungsdienste, wie zum Beispiel jene an der Südostgrenze im Kanton Graubünden, durchaus beliebt:
«Soldaten allüberall! In der hübschen Konditorei ‹Ma campagne› in Pontresina sitzen sie behaglich; denn dieses einstige Stelldichein der eleganten Welt ist eine Soldatenstube geworden. Tritt man neugierig ein, schallt es lustig: ‹Nüt für Ziviliste›. Die Strasse in Pontresina, die sonst gleichzeitig Korso und Markt und Vanity fair aller Rekordjäger in touristischen und weltlichen Dingen war, ist sehr beliebt: Munitionskolonnen und Geschütze, Reiter und Fussvolk ziehen vorbei. Die bunte Herde der Hotelomnibusse vor dem Bahnhof ist verschwunden; dafür stehen auf den Vorplätzen der grossen Hotels Kanonen und Maschinengewehre. Dort, wo sonst das Verkehrsbureau war, ist jetzt das Platzkommando und ein von der Sonne braun gebratener Soldat, Bajonett am Gewehr, steht davor.» 31
Der militärische Bezugsrahmen der Schweizer Aktivdienstsoldaten scheint summa summarum nicht so sehr der Krieg als vielmehr der Instruktionsdienst beziehungsweise der Wiederholungskurs der Friedenszeit geblieben zu sein, entsprechend dominierten dessen klassische Problemlagen. Der moderne Krieg war insbesondere für die Mannschaft weit weg, und so nützte sich der überdies häufig mangelhaft gestaltete Ausbildungsbetrieb ab. Angesichts dieser Umstände und eingedenk der sich insgesamt eher im Rahmen haltenden Dienstbelastung der Wehrmänner sprachen Jorio und Wicki an der Tagung von 2016 von einer partiellen «Verzivilisierung» der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Diese These steht insbesondere Überlegungen einer angeblichen Militarisierung der Schweizer Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entgegen. Sie wird zumindest indirekt auch durch die Aufstellung des «Vortragsbüros der Armee» gestützt, dem sich Yves-Alain Morel in seinem Beitrag «General Wille und der Wehrwille» widmet. Die Arbeiten des Büros von Gonzague de Reynold sollten die militärische und staatsbürgerliche Erziehung der Wehrmänner fördern und «Vaterlandsliebe hervorrufen», entsprechende Insuffizienzen scheinen zumindest in den Augen des Oberbefehlshabers die Errichtung des Büros notwendig gemacht zu haben.
Im vierten Kapitel Meutereien und Militärjustiz tritt der Krieg als Kontextrahmen deutlich in den Hintergrund. Vier junge Kollegen erläutern auf der Basis dreier Qualifikationsarbeiten ihre Forschungsresultate zu meutereiartigen Vorfällen in der Schweizer Armee während des Aktivdienstes. Manuel Wolfensberger beleuchtet in seinem Beitrag «Meuterei und Aufruhr in der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrieges: Die Militärjustiz zwischen Gesetz und General» die rechtlichen Grundsatzproblematiken von insgesamt 44 erfassbaren Fällen kollektiver Insubordination im Schweizer Militär während der Kriegsjahre, von denen notabene bis heute erst drei detaillierter aufgearbeitet sind. 32Das veraltete Militärstrafgesetz aus dem Jahre 1851 erschwerte die adäquate Ahndung dieser Fälle massiv. Der Schweizer Oberbefehlshaber, General Wille, sah in der Militärjustiz zudem primär ein Instrument zur militärischen Erziehung der Truppe beziehungsweise zur Kriegsertüchtigung derselben und griff wiederholt und massiv in die Arbeit der Militärgerichte ein. Zu diesem Schluss kommen auch Maurice Thiriet und Michel Scheidegger in ihrem Beitrag «General Ulrich Wille und die Militärjustiz am Beispiel der Meuterei der Feldbatterie 54». Der Beitrag zeigt fallartig auf, wie der General die Militärjustiz nicht so sehr als unabhängiges Rechtsorgan des militärischen Gesamtsystems, sondern eher als Instrument zur Disziplinierung des «Referendumsbürgers in Uniform» ansah und massiv in die Arbeit der Militärrichter intervenierte. Dazu sah sich Wille im Verlaufe des Krieges durch immer heftiger laufende Skandalisierungskampagnen der linken politischen Presse gegen die Armee veranlasst, die insbesondere das schweizerische Offizierskorps klassenkämpferisch als Unterdrückungsinstrument der bürgerlichen Klasse brandmarkte. Da Militärgerichtsprozesse zu vermuteten oder effektiv stattgefundenen Meutereien den Armeeskandalisierungen beispielsweise der linken Berner Tagwacht laufend neue Munition lieferten, griff Wille im Falle der Feldbatterie 54 in die Untersuchungsarbeit der Militärjustiz ein und entzog ihr faktisch den Fall, um selbigen auf disziplinarischem Wege armeeintern zu erledigen. Wille ging es dabei auch darum, die Autorität der Truppenkommandanten zu stärken, wobei er deren Verhalten durchaus differenziert und situationsabhängig zu beurteilen wusste. 33Dass sich der General in seiner Funktion gewissermassen als oberster Personalchef der Schweizer Armee betrachtete, macht auch der Beitrag von Lea Moliterni und Michel Scheidegger «Gnadenmotive und Gnadenpraxis innerhalb der Infanterie-Brigade 12» deutlich. Am Beispiel einer kleinen Meuterei auf dem Flugplatz Dübendorf im Frühjahr 1918 untersucht der Artikel Gnadengesuche militärgerichtlich verurteilter Wehrmänner an den Oberbefehlshaber, der in der Schweizer Armee allein im rechtlich bindenden Sinne Gnade sprechen konnte. Die Charakteristiken seiner Gnadenpraxis fördern dabei ziemlich neue Facetten der Person Ulrich Willes zu Tage und zeigen überraschend eine ihm eigene, humanistische Seite auf. Moliterni und Scheidegger sprechen in diesem Zusammenhang vom «sensiblen General», eine Charakterisierung, die die übliche wie simple Überlieferung von Ulrich Wille als bösem «Soldatenschinder» stark in Frage stellt.
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