Am 25. August 2013 reiste Sr. Gaudentia für einige Wochen in die Schweiz, um hier ihre Goldene Profess, die fünfzigjährige Treue zum Ordensgelübde, zu feiern. Ich besuchte den Gottesdienst und vereinbarte in der folgenden Woche ein Treffen mit ihr.
Die Gespräche verliefen anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sr. Gaudentia ist eine gute Erzählerin, aber keine, die gerne von sich spricht. Und ihr ist das Leben in Papua-Neuguinea mittlerweile so vertraut, dass ihr nicht bewusst ist, wie exotisch das, was sie dort tagtäglich erlebt, für uns ist. Es wurde klar, dass meine ursprüngliche Idee, ihre Erzählungen einfach im Wortlaut niederzuschreiben, nicht funktionieren würde.
Wir trafen uns zwischen August und Oktober 2015 zu drei längeren Gesprächen. Dann reiste sie wieder ab. Im Mai 2016 traf ich mich mit Sr. Martine Rosenberg, welche mit Sr. Gaudentia die Profess abgelegt, von 1981 bis 1999 der Klostergemeinschaft als Frau Mutter vorgestanden hatte und nun in Baldegg das Missionssekretariat betreute. Sie hatte die Schwestern in Papua-Neuguinea mehrmals besucht.
Ich hoffte erst, die Geschichte mittels Mailkontakt weiterschreiben zu können. Das ging nicht. So geduldig, ja manchmal unermüdlich und bildhaft Sr. Gaudentia mündlich erzählte, so knapp und sachlich schrieb sie. Bald stand dann jeweils: «Em tasol.» Meine Frage, was das denn heisse, beantwortete sie mit: «Das wird in Pidgin-Englisch am Ende eines Berichts geschrieben. Es heisst ungefähr: Das wars. Oder einfach: Ende.»
Mitte 2018 erreichte mich die Nachricht, dass Sr. Gaudentia ernsthaft erkrankt sei und in die Schweiz zurückkehren würde. Wahrscheinlich für immer. Glücklicherweise erwies sich die Krankheit als weniger schlimm als ursprünglich angenommen. Doch war der Entscheid gefallen. Nach fast fünfzig Jahren Tätigkeit in Papua-Neuguinea kehrte sie, in ihrem achtzigsten Lebensjahr, in die Schweiz zurück. Nicht nur auf Urlaub, sondern endgültig.
Es ist nun Anfang Mai 2020. Gestern wären Sr. Gaudentia und ihre Mitschwester, Sr. Lukas, wohl ein letztes Mal nach Papua-Neuguinea geflogen, um das fünfzigjährige Jubiläum der Baldegger Mission zu feiern. Alles war vorbereitet. Es wäre eine schöne, aber auch anstrengende Zeit für die beiden Ordensfrauen geworden, denn viele wollten sie wiedersehen. Die überstürzte Abreise vor eineinhalb Jahren hatte einen gebührenden Abschied verhindert.
Nun durchkreuzte die Coronakrise die Reisepläne. «Es sollte vielleicht einfach nicht sein», sagte Sr. Gaudentia. Endgültig klang das nicht.
Sr. Gaudentia Meier kann auf eine aussergewöhnliche Lebensgeschichte zurückschauen. Sie handelt von einer Frau, die 24-jährig in ein Kloster eintrat, weil sie Missionarin werden wollte. Die fast fünfzig Jahre in Papua-Neuguinea lebte und wirkte, dort erst in der Geburtshilfe tätig war, dann Pflegerinnenschulen und ein international anerkanntes Aidsspital aufbaute. Und sie handelt von einer Missionarin, die sich furchtlos einer pöbelnden Menge entgegenstellte, als diese eine Frau brutal misshandelte, als Hexe beschimpfte und zum Scheiterhaufen führen wollte.
In der örtlichen Presse war im Vorfeld von einem Jahrhundertereignis die Rede. Und das will sich offensichtlich niemand entgehen lassen, denn die Menschen strömen an diesem sonnigen Sonntagmorgen, lange vor Beginn des Gottesdienstes, in die Kirche des Klosters Baldegg. Es ist der 25. August 2013, und heute feiern zwanzig Baldegger Schwestern ihre Goldene Profess. Unter ihnen ist auch Sr. Gaudentia Meier aus Waltenschwil. Sie werden die nach ihrem Klostereintritt abgelegten Gelübde erneuern: Armut, Gehorsam, Keuschheit.
Es ist die Zahl der jubilierenden Schwestern, welche diese Goldene Profess zum Jahrhundertereignis macht. 24 junge Frauen traten vor fünfzig Jahren in das Kloster Baldegg ein. Damals gehörten über 1000 Ordensfrauen der Gemeinschaft an, es war die grosse Zeit des Klosters Baldegg. Heute sind es noch 225 Schwestern, und vor bald zwanzig Jahren legte die letzte Novizin ihre Profess ab.
Die Kirchenglocken sind im Luzerner Seetal weitherum zu hören, doch wer sich erst jetzt auf den Weg macht, wird kaum mehr Platz in der saalartigen Institutskirche des Klosters finden. Die ungefähr 500 Sitzplätze sind schon beinahe besetzt. Eine energische Ordensschwester, deren Füsse trotz hochsommerlicher Temperaturen in robusten schwarzen Schnürschuhen stecken, weist die Besucherinnen und Besucher ein. Der Raum ist festlich erleuchtet und mit Blumen geschmückt. Die Sonnenblumen lockern mit ihren sattgrünen Blättern und dem fröhlichen Gelb die ansonsten ernste, feierliche Stimmung auf.
Nun werden zusätzliche Stühle herbeigeschafft. Noch immer treten Menschen vor den Altar, verneigen sich und folgen dann der allmählich etwas mitgenommen wirkenden Schwester, die Ausschau nach Bankreihen hält, in denen die Menschen nicht ganz so dicht sitzen. Nett lächelnd bittet sie dann, noch etwas enger zusammenzurücken. Zwei Schweizer Gardisten stehen in ihren bunten Uniformen stramm und schauen mit unbewegten Mienen dem Treiben zu. Sie sind zu Ehren einer Schwester angereist, die ihnen im Vatikan Italienischunterricht erteilte.
Dann stimmt der Schwesternchor ein Lied an, die Orgel steigt ein. Es beginnt der Einzug. Ministranten gehen voran, Kerzen haltend, es folgt eine Gruppe Ordensschwestern, eine trägt hoch über ihrer Brust eine Bibel, dann folgt die Schar der Jubilarinnen. Sie sind in ihre dunkelblaue Schwesterntracht mit weissem Kragen und schwarzem Schleier gekleidet; in ihren Händen halten sie eine Kerze mit rot-goldenem Kreuz. Eine weisse Spitzenrose als Brosche und ein gleichschenkliges Kreuz, das sie an einer einfachen schwarzen Schnur um den Hals tragen, sind ihr einziger Schmuck. Die Besucherinnen und Besucher haben sich von ihren Sitzen erhoben. Einige Schwestern blicken ernst, viele aber schauen sich neugierig in den Sitzreihen um und lächeln, sobald sie bekannte Gesichter sehen. Eine winkt sogar. Inzwischen sind auch sechs in weisse und goldene Messgewänder und prächtige Stolen gekleidete Priester vorbeigezogen. Einer trägt eine Bischofsmitra. Es ist Kurienkardinal Kurt Koch, einer der höchsten Geistlichen der Schweiz, hier, gleich um die Ecke, in Emmenbrücke, aufgewachsen. 1996 wurde er von Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Basel geweiht und 2010 von Papst Benedikt XVI. nach Rom berufen. Er präsidiert dort den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen.
Weihrauchschwaden ziehen durch die Kirche, der Chor singt «Nun jauchzt dem Herren, alle Welt». Einer der Priester begrüsst in leicht näselndem Ton die Schwestern an ihrem «Ehrentag». Dann beginnt der Kardinal mit seiner Ansprache. Er spricht von einer Glaubenskrise, die er in der heutigen Gesellschaft beobachtet: «Gott wird nicht mehr als gegenwärtig wahrgenommen.» Es fehle vielen Menschen an einem persönlichen Gott, «es fehlt die Leidenschaft für Gott». Und: «Wir sollen unseren Glauben mit dem Leben bezeugen.» Dann zitiert er jenen Papst, der vor fünfzig Jahren – im Jahr, als die heute feiernden Schwestern ihre Profess ablegten – sein Amt antrat: «Paul VI. nannte Ordensmenschen einmal Spezialisten für Gott», erzählt Kardinal Koch. «Denn sie leben vor, dass die Kirche es mit Gott zu tun hat und Gott in der Kirche lebendig ist.» Er dankt den Baldegger Klosterfrauen, dass sie durch ihr Tun die Gegenwart Gottes bezeugen. Und auch, er lächelt in die Runde, dass sie über all die Jahre seinen bischöflichen Haushalt in Solothurn führten.
Dann gehen die zwanzig Schwestern, eine nach der anderen, zur grossen Kerze am Altar, um daran ihre eigene Kerze zu entzünden. Sie stellen sich im Halbkreis auf und wiederholen ihr Gelübde, mit dem sie sich vor fünfzig Jahren dem Ordensleben verpflichteten: «Wir antworten Dir heute von Neuem und bitten, hilf uns jungfräulich, arm und gehorsam Jesus Christus nachfolgen, zu Deinem Lob und zum Heil der Menschen. Amen.» Manche Stimmen sind laut und deutlich im Kirchenraum zu hören, manche klingen etwas heiser. Nach eineinhalb Stunden stimmt die Orgel das Lied «Grosser Gott, wir loben Dich» an.
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