Viele Schulhäuser kennen einen Ablauf (Leitfaden), wie die Lehrperson bei Grenz- und Regelverletzungen, bei problematischen Verhaltensweisen konkret vorgehen soll. Einerseits sind darin Disziplinarmassnahmen aufgeführt, andererseits auch Möglichkeiten, Unterrichtsbelastungen, Unterrichtsstörungen und Krisensituationen sofort zu begegnen. Es existieren diverse Konzepte. Das bekannteste ist wohl das Trainingsraum-Programm (Balke 2003; Classen & Niessen 2006).
Einige Schulen haben eine Anlaufstelle für Lehrpersonen mit «schwierigen Schülern». Diese ermöglicht im Schulalltag ohne grosse Absprachen, einzelne den Unterricht störende Schülerinnen und Schüler vorübergehend (für Stunden, Tage oder wenige Wochen) innerhalb der Schule zu platzieren. Diese Massnahme bedarf immer einer Begleitung. Dazu existieren unterschiedliche gemeindebezogene Konzepte.
Anzahl Lehrpersonen an einer Klasse
In den meisten Schuleinheiten unterrichten heute mehrere Lehrpersonen in einer Klasse. Dieser Punkt wird auch in der oben erwähnten Belastungsstudie gewichtet. Eine empfohlene Massnahme: die Anzahl Lehrpersonen pro Klasse reduzieren (vgl. Bucher 2010, S. 31). Buchers Studie empfiehlt vor allem eine «Zusammenführung» der IF- und IS-Pensen auf eine Lehrperson. Die Vielzahl der Unterrichtenden hat jedoch auch mit dem Wechsel der Ausbildung der Lehrpersonen vom «Allrounder» zur Fächergruppenlehrkraft zu tun. Tatsache bleibt, dass vor allem verhaltensauffällige (und leistungsschwache) Schülerinnen und Schüler (aber auch die anderen) konstante, stabile und verlässliche Bezugspersonen brauchen. Im Übrigen wird es für die Lehrperson bei mehreren Klassen wegen der grossen Anzahl von Lernenden immer schwieriger, eine Beziehung zu den einzelnen Lernenden aufzubauen. Eine mögliche Folge davon: häufigere disziplinarische Störungen – ein Teufelskreis.
Empfehlungen: Mit Blick auf die grösser werdende Anzahl von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern sollen so wenige Lehrpersonen wie möglich an einer Klasse unterrichten. Dass sie in der Folge eventuell einen ungünstigeren Stundenplan haben, geschieht freilich in ihrem Interesse (vgl. oben). Des Weiteren müsste die Ausbildung der Fächergruppenlehrkraft im Hinblick auf die Wichtigkeit der Bedeutung einer Klassenlehrperson überdacht werden.
Die anspruchsvolle Arbeit mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen bedeutet, dass sich im Schulzimmer verschieden grosse Lerngruppen mit eventuell zwei bis drei Lehrpersonen auf zum Teil kleinem Raum befinden. Wenn in einigen Lerngruppen diskutiert wird und andere Lernende selbstständig lernen, ist unter anderem der Lärmpegel derart, dass sich nicht alle konzentrieren können.
Massnahmen: Bauliche Veränderungen wie Nebenräume, grössere Schulzimmer (flexibel unterteilbar) sind in vielen Gemeinden dringend nötig.
Kantonale (gesetzgebende) Ebene
Zu grosse Klassen
In den heutigen heterogenen Klassen sind Individualisierung der Stoffvermittlung und Differenzierung der Lerninhalte oft die einzige Möglichkeit des Unterrichtens. Diese Methoden setzen eine grosse Konzentrationsfähigkeit und Selbstständigkeit der Lernenden voraus, die viele «schwierige Schüler» (und nicht nur sie) in einer Klasse mit über zwanzig Lernenden nur ungenügend aufbringen können.
Massnahmen: Die Richtlinien für die Klassengrössen sind vom Kanton vorgegeben. Ausnahmen gibt es sehr selten. Die Schulleitung hat auf die Klassengrösse nur strukturellen Einfluss, das heisst: je grösser die Schuleinheit, desto grösser der Spielraum. Es sind politische Massnahmen, die das Problem der grossen Klassen beheben könnten.
Situation: Die Lernenden verfügen über die unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen.
Massnahmen: Lehrmittel sollten für verschiedene Lern- und Leistungsdifferenzierungen verfügbar sein. Solche Lehrmittel müssten folgende Bedingungen erfüllen:
• sofort einsetzbar;
• alle Materialien vorhanden;
• genügend Übungsmaterial vorhanden;
• übersichtliche Differenzierung;
• selbstständige Lernkontrolle durch die Lernenden.
2 Disziplin
(Elsbeth Würzer)
A Aussagen von Lehrpersonen
Disziplin und der respektvolle Umgang zwischen Lernenden und Lehrpersonen beschäftigen etliche Lehrpersonen aus unserer Umfrage. Auch wenn das Wort «Disziplin» nicht immer explizit genannt wird, erscheint es im Zusammenhang mit der Klassenführung zwischen den Zeilen.
Ein erfahrener Primarlehrer aus dem Kanton Luzern bringt das Thema Disziplin in einen Zusammenhang mit den neuen Unterrichtsformen:
A1 «Die heutigen Lehr- und Lernformen sorgen auch für Herausforderungen in der Disziplin. Wie organisiert die Lehrperson den Unterricht und die Klassenführung optimal, damit Unterricht klar, strukturiert und effizient gestaltet werden kann?»
Ein langjähriger Oberstufenlehrer schreibt:
A2 «Durch den Niveauunterricht (Sekundarstufe) wird die Klasse in ihrer Homogenität immer wieder belastet, weil ständig unterschiedliche Leistungslerngruppen entstehen. Eine stark erschwerte Klassenführung ist die Folge, und die leistungsschwächeren Stufen (B/C) werden zur Herausforderung, die einzig Kolleginnen und Kollegen mit Erfahrung und grossem Aufwand schaffen.»
Ein Kollege formuliert sein Anliegen nach mehr Ruhe und Ordnung in einer Frage:
A3 «Gibt es allgemeingültige Methoden, Modelle oder Hilfestellungen, die effizient und effektiv sind, um Verhaltensauffälligkeiten in den Griff zu bekommen?»
Disziplin ist kein neutrales Wort. Einerseits ist es für viele von uns aus biografischen Gründen belastet, andererseits ist es in der Vergangenheit (nicht nur im letzten Jahrhundert) für menschenverachtende Haltungen verwendet worden. In der schwarzen Pädagogik (Pädagogik, die sich repressiver Mittel bediente) waren Disziplin und Angst Begriffe, die zusammengehörten. Bevor auf die theoretischen Hintergründe eingegangen wird, lassen wir Beispiele zum Themenkreis Disziplin sprechen.
B1 Der Schwimmunterricht der 5. Klasse ist beendet, und die Schülerinnen und Schüler sollen das Schwimmbad verlassen. Doch Leo fragt: «Darf ich nicht noch schnell eine Länge tauchen?» «Nein», antwortete die Lehrperson, «du kannst das nächste Mal wieder schwimmen und tauchen.» Leo gehorcht nicht und springt ins Wasser.
B2 Der Sportlehrer der Sekundarschule gibt Kevin eine Anweisung. Der Junge weigert sich, dieser zu folgen. Erneut fordert der Sportlehrer ihn auf, der Aufforderung Folge zu leisten. Daraufhin spuckt Kevin vor dem Lehrer auf den Hallenboden.
B3 Matthias (Sekundarschule) hat zum dritten Mal in diesem Semester die Hausaufgaben nicht gemacht. Dies ist der fünfte Eintrag, weil er ausserdem zweimal verschlafen hat. Fünf Striche bedeuten an dieser Schule, dass Matthias eine Unterschrift der Eltern braucht und am folgenden Mittwochnachmittag in der Schule arbeiten muss. Diese Regeln sind schriftlich festgelegt und allen bekannt. Matthias ist aufgebracht und beginnt laut zu lamentieren, will sofort darüber diskutieren, um den Eintrag abzuwenden. Er merkt, dass ihm das nicht gelingt, und wird immer lauter und unbeherrschter. Auf eine Ermahnung der Lehrerin hin steht er auf, geht zum Zimmer hinaus und wirft die Türe zu. Die Lehrerin weiss aus Erfahrung, dass sie am Abend einen Anruf der Eltern erhält, die ihr Vorgehen aufs Schärfste missbilligen.
B4 «Ein spezieller Stress war die Pausenaufsicht. Es gab dauernd Raufereien, hier eine versprayte Wand, da wieder mal einen kleinen Brand auf der Toilette, dort primitive Sprüche hinter meinem Rücken. Hey, fick dich, Hurensohn!» (Beglinger 2008, S. 16)
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