Das Erleben der eingeschränkten Selbstwirksamkeit angesichts eines «schwierigen Schülers» kann zu einem gewichtigen Stressfaktor im Lehrberuf werden ( → Kapitel 9, Belastungen im Lehrberuf). Die Folgen können gravierend sein und sich in somatischen und/oder psychosomatischen Beschwerden äussern. Nicht nur die von Burn-out stark betroffenen Lehrpersonen müssen dies erleben. Auch erfahrene und erfolgreiche Lehrpersonen wissen von Klassen oder Schülern zu berichten, die sie in ihrem Glauben an die eigenen persönlichen Fähigkeiten erschüttert haben.
In einem zweiten Versuch könnte man einen Schritt weiter gehen und das Verhalten und dessen Auswirkungen beschreiben:
Ein «schwieriger Schüler» sticht durch sein unangenehmes und auffälliges Verhalten über längere Zeit hervor und stört die Lehrperson, den Unterricht und/oder das Klassenklima ständig auf irgendeine negative Art und Weise.
Diese Definition ist deskriptiv und bezieht das Umfeld (Mitschülerinnen und Mitschüler), den Rahmen und die Lehrperson mit ein. Ebenso wird die Beschreibung ergänzt durch die Faktoren Zeit und Zielgerichtetheit.
Doch was ist die Ursache von schwierigem Verhalten? Nicht jedes solche Verhalten ist stets destruktiv, vielleicht erreicht ein Schüler nur auf diese Art und Weise Beachtung, die andere durch Leistungsbereitschaft erfahren, eine Möglichkeit, die dem störenden Schüler jedoch – aus welchen Gründen auch immer – verschlossen bleiben. Jeder Mensch sucht auf seine Art eine soziale Beziehung. Manchmal ist die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit auch übersteigert, oder Eifersucht und Konkurrenz versperren den Blick für die Realität. Eine Lehrperson versucht zumeist auf verschiedene Art und Weise, auf die verhaltensauffälligen Lernenden zu reagieren, und kommt nicht selten an Grenzen des möglichen Repertoires.
Der Versuch einer eigenen Definition wird immer länger, wenn wir weiter ergänzen:
Ein «schwieriger Schüler» sticht durch sein unangenehmes und auffälliges Verhalten über längere Zeit hervor und stört die Lehrperson, den Unterricht und/oder das Klassenklima ständig auf irgendeine negative Art und Weise. Er lenkt permanent die Aufmerksamkeit der Lehrperson auf sich und neigt dazu, deren Grenzen auszuloten. Die Lehrperson hat oft das Gefühl, nichts ausrichten zu können, weil sie schon alles Mögliche ausprobiert und sich das Verhalten des Lernenden nicht geändert hat.
Auch Klein und Krey (2001) sehen objektive Kriterien, die ein Verhalten als «schwierig» erkennen lassen und eine präzisere Definition erfordern:
«Schwieriges Verhalten ist Ausdruck fehlender sozialer Kompetenzen.» (S. 4)
Dieser Erklärungsversuch ist kurz, weil er das Verhalten mit seinen Mängeln ausdrückt. Die Beschreibung ist personenunabhängig, das heisst, das Erleben der Lehrperson und der Orientierungsrahmen spielen darin keine Rolle. Sie überzeugt durch «Neutralität». Nicht alle Lehrpersonen kennen das Gefühl der Hilflosigkeit bei einem oder mehreren «schwierigen Schülern». Durch das Fehlen einiger wichtiger sozialer Kompetenzen bei einem oder mehreren Lernenden können sich tatsächlich störende Verhaltensweisen und Haltungen ausbreiten, wie zum Beispiel Rücksichtslosigkeit, geringe Frustrationstoleranz, sich über Regeln und Grenzen hinwegsetzen, nicht zuhören usw. Fehlende soziale Kompetenzen müssen jedoch nicht zwingend schwieriges Verhalten auslösen.
In neueren Fachpublikationen findet man Begriffe wie «verhaltensauffällig», «verhaltensoriginell», oder es ist die Rede von «erwartungswidrigem» und «herausforderndem» Verhalten. Im Rahmen der integrativen Schulung ist die Bezeichnung «Kinder mit besonderen Bedürfnissen» am gebräuchlichsten ( → Kapitel 6, ADHS). Dazu ergänzen die psychiatrischen Kürzel POS 1und AD(H)S 2die Bezeichnungen des «schwierigen Schülers» und werden manchmal synonym zum Begriff der Verhaltensauffälligkeiten gebraucht (Göppel 2010, S. 202 f.).
Verständnis und Vorgehensweise gegenüber verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Heute ist es selbstverständlich, dass vertieft die Ursachen eines auffälligen Verhaltens ergründet werden.
Becker bezeichnet den «schwierigen Schüler» in seinem Buch «Lehrer lösen Konflikte» als «Problemschüler». In seiner Umschreibung bringt er unseres Erachtens einen Punkt besonders deutlich zum Ausdruck: Die Problemschüler sind bei der Lektionsvorbereitung der Lehrperson immer präsent (Becker 2006, S. 132). Sie fragt sich bei jedem Planungsschritt, ob das Vorhaben wohl in dieser Form gelingen wird, ob eine bestimmte Methode nicht derart viel Unruhe in den Unterricht bringt, dass ein Arbeiten nur noch schwer möglich ist, usw. Die Lehrperson verliert in dieser täglichen Arbeit den Schwung, braucht bei diesen Abwägungen viel Zeit, und die Motivation sinkt. Dies hat wiederum einen Einfluss auf die Klassenführung und damit direkt auf die Lernenden: ein Teufelskreis.
Wenn dieser Zustand erreicht ist, besteht Handlungsbedarf. Es darf nicht sein, dass ein oder mehrere verhaltensauffällige Kinder in einer Regelklasse das Lernklima derart dominieren, dass viele Heranwachsende in ihren Bedürfnissen zu kurz kommen.
Warum gibt es «schwierige Schüler»?
Eine mögliche Antwort wäre, die Ursache in den heutigen «schlechten Zeiten» suchen. Wenn man sich jedoch mit der Geschichte von verhaltensauffälligen Kindern beschäftigt, trifft man schon früh auf verschiedenste Bezeichnungen. So gibt es in der Literatur die «verkommenen Söhne» und «missratenen Töchter». In der Pädagogik ist die Liste der Adjektive lang und vielfältig und widerspiegelt die jeweilige Zeit. Man sprach von bösartigen, sittlich verwilderten, von moralisch schwachsinnigen, soziopathischen Kindern. Oder von schwer erziehbaren, gemeinschaftsschwierigen, seelisch heimatlosen, entwicklungsgestörten, entwicklungsgehemmten, haltschwachen Kindern. Und auch von sozial schwierigen, verhaltensgestörten, verhaltensschwierigen und erziehungshilfebedürftigen Kindern war die Rede (Göppel 2010, S. 201 f.).
Schwieriges Verhalten ist von verschiedenen, miteinander verknüpften Faktoren geprägt. Einerseits ist von Entwicklungsverletzungen, aktuellen Entwicklungskrisen, neurobiologischen Störungen (zum Beispiel ADHS), aktuellen Familienproblemen, familiären Erziehungsfehlern und schulischen Fehlern die Rede und andererseits von gesellschaftlichen Einflüssen (Keller 2010, S. 29 f.). Es ist nicht Thema dieses Buches, alle diese Hintergründe und Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern zu beleuchten, zu analysieren und zu erklären.
Es soll hier genügen, darauf aufmerksam zu machen, dass jede Eindimensionalität einer Lösungssuche im Wege steht. Kurzfristig mag wohl die eine oder andere Erklärung in der Enttäuschung und/oder Ohnmacht entlastend sein, doch wenn sie zu kurz greift und keinen Lösungsansatz eröffnet, steigert sie unter Umständen die Verbitterung. Wichtig erscheint uns, dass Lehrpersonen «schwierige Schüler» als solche ernst nehmen und sich Gelegenheiten verschaffen, deren Störungsbotschaften zu übersetzen. Manchmal gelingt es in einem Gespräch, mögliche Ursachen zu erfahren. Vielfach machen Lehrpersonen die Erfahrung, dass der «schwierige Schüler» selbst unter seinem Verhalten leidet und es verändern möchte. Von der Einsicht zum korrigierten Verhalten ist allerdings zuweilen ein weiter Weg, wie Wiater (2009) schreibt:
«Damit Verhaltensmodifikation überhaupt gelingen kann, muss es zwischen Schüler und Lehrer nicht nur ein maximales Vertrauen und eine grösstmögliche Kooperationsbereitschaft geben, sondern vor allem auch die Bereitschaft und Offenheit des Schülers dazu. […] Ohne Mitwirkung des Schülers bleiben die Bemühungen um eine Änderung seines Verhaltens erfolglos.» (A. a. O., S. 61)
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