Unser Dank gilt den Lehrpersonen, die uns mit ihren Antworten auf unsere Umfrage Anstoss zu den Themen gaben: Sachverständigen (Schulleitungen, Heilpädagogen, einer Schulpsychologin, Prof. Rolf Dubs und vielen anderen), den Interviewten; den «Critical Friends», die einige Kapitel durchlasen und uns mit wichtigen ergänzenden Ratschlägen unterstützten und schliesslich dem hep verlag, der unser Projekt von Anfang an unterstützte.
Elsbeth Würzer und Thomas Zellweger
Januar 2013
Das Motto, das diesem Geleitwort vorangestellt ist, stammt aus dem Buch «Das Elterngespräch in der Schule» von Claudius Hennig und Wolfgang Ehinger, erschienen bei Auer, Donauwörth.
1 Der «schwierige Schüler»
(Elsbeth Würzer)
A Aussagen von Lehrpersonen
Eines der brennendsten Themen der meisten befragten Lehrpersonen ist der Umgang mit «schwierigen», verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern.
Eine Primarlehrerin (4. Klasse) aus dem Kanton Zürich bringt es auf den Punkt:
A1 «Meine Pensenpartnerin und mich belastet die Unruhe in unserer Klasse sehr. Wir haben extrem viele verhaltensauffällige Kinder. Die Schulpsychologin hat viel zu tun bei uns. Nebst diesen speziellen Kindern bleibt manchmal zu wenig Zeit für Kinder, die im normalen Masse Hilfe brauchen würden.»
Und ein Sekundarlehrer aus dem Kanton Luzern schreibt:
A2 «Mich beschäftigt der Umgang mit sehr verhaltensauffälligen Jugendlichen.»
Einerseits ist es die Summe von Störungen des Unterrichts, von Vorfällen mit «schwierigen Schülern» und andererseits der Schweregrad von einzelnen Verhaltensauffälligkeiten. So zum Beispiel der Sekundarschüler, der auf eine wiederholte Arbeitsaufforderung zum Lehrer sagt: «Heb d’Schnure, susch hau der eis i d’Frässi», oder die Sekundarschülerin, die dem Lehrer auf eine Ermahnung den Mittelfinger zeigt und «Figg di» sagt.
Wir setzen den Begriff bewusst in Anführungszeichen. Es ist schier unmöglich, hier die geschlechtsneutrale korrekte Bezeichnung des «Lernenden» zu verwenden, weil der «schwierige Schüler» eben oft alles andere tut als lernen. Zudem sind «schwierige Schüler» heute in der überwiegenden Mehrzahl Knaben (Guggenbühl 2006, S. 45). An anderer Stelle ( → Kapitel 11, Eine Schule für Knaben?) wird auf diese Thematik eingegangen.
Einige Beispiele sollen illustrieren, womit Lehrpersonen im Schulalltag beim «schwierigen Schüler» konfrontiert sind.
B1 Im Werkunterricht, der nach sechs Lektionen den Schulalltag beendet, wird die elektrische Säge für eine Arbeit gebraucht. Philipp kam am Morgen das dritte Mal in dieser Woche zu spät in den Unterricht, hat diesen den ganzen Tag, wie so oft, mit lauten Kommentaren, die nichts mit der Schule zu tun haben, gestört und andere Schülerinnen und Schüler abgelenkt. Als Philipp ein ganz kleines Stück Holz schneiden will, sagt ihm die Lehrperson, dies sei zu gefährlich, er solle es von Hand sägen (die Finger könnten verletzt werden). Philipp beginnt mit ihr zu diskutieren und will sein Vorhaben durchsetzen. Die anderen 15 Lernenden sind wie immer abgelenkt und verfolgen die Szene. Daraufhin lässt er die Maschine an und zersägt das kleine Stück vor den Augen der Lehrperson.
B2 Kevin ist in der 5. Klasse sehr auffällig. Jeden Tag gibt es einen Vorfall mit ihm. Ständig klopft er mit einem Stift auf das Pult, während die anderen Lernenden ruhig arbeiten wollen. Er zerkratzt seine Unterlagen, arbeitet nicht mit oder sperrt sich zum Beispiel mit einer Schere in der Toilette ein. Im Fach Musik gab die Musik-Fachlehrperson eine kurze Einführung zur Prüfung. Da ist es so ausgeartet, dass Kevin den Unterricht immer wieder unterbrochen hat mit Sätzen wie: «Ich bin behindert. Ich bin doof. Ich will ficken lernen.»
B3 Die 4. Klasse ist an einer stillen Arbeit. Reto will diese Einzelarbeit nicht machen; er geht deshalb nach vorne zur Lehrperson und sagt ihr das. Diese versucht, ihn zu motivieren, indem sie ihm bei der ersten Aufgabe hilft. Reto geht zurück an seinen Platz und macht die Arbeit selbstständig fertig. Die Lehrperson sieht die gelungene Arbeit und lobt Reto für die gute Arbeit. Kurz darauf radiert Reto alle Antworten aus und ruft: «Gefällt es Ihnen immer noch?»
Die Beispiele stehen stellvertretend für Belastungen, die als Einzelphänomen nicht besonders ins Gewicht fallen würden; aber hinter jeder Situation stehen unzählige Wiederholungen in allen möglichen Schattierungen, das Repertoire an Reaktionsweisen kennt keine Grenzen. Grenzenlos wird mitunter auch die Ohnmacht vieler Lehrpersonen, vor allem auch der Fachlehrpersonen, die nur wenige Lektionen in einer Klasse unterrichten (wie B2 veranschaulicht). Hinter jedem dieser Beispiele stehen persönliche und individuelle (Leidens-) Geschichten. Reihen sich über Tage und Wochen hinweg solche Ereignisse aneinander, so schwindet das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit, kann der Ärger wachsen, macht sich Ohnmacht breit – und die Arbeit kann im wahrsten Sinne des Wortes immer schwerer lasten.
Ein «schwieriger Schüler» allein, so glauben viele Lehrpersonen, wäre in einer Klasse durchaus tragbar oder er tragbar. Doch in vielen Klassen ist der «schwierige Schüler» kein Einzelfall. Im Zusammenhang mit der Auflösung von Kleinklassen, der Erhöhung der Klassengrössen kumulieren sich in vielen Klassen die «schwierigen Schüler», die Probleme, die Sorgen, der Frust der Lehrperson. Zusätzliche Lehrpersonen, schulische Heilpädagogen, die Schulsozialarbeit sind oft eine Hilfe und Erleichterung, doch viele Schwierigkeiten sind Teil eines grundlegenden Beziehungsmusters des Kindes oder haben tiefere familiäre Wurzeln und lassen sich selten rasch beheben. Schwierige Konstellationen müssen sowohl von Lehrpersonen als auch von Mitschülerinnen und -schülern oft über längere Zeit ausgehalten werden. Manch eine Lehrperson ist froh, in solchen Fällen nur wenige Lektionen in der fraglichen Klasse zu erteilen.
C Theorie
Was ist ein «schwieriger Schüler»? – Versuch einer Definition
Beim Versuch, den «schwierigen Schüler» zu definieren, stolpert man sogleich über die beiden Tatsachen, dass erstens das «schwierige» Verhalten eines Lernenden nicht für jede Lehrerin, jeden Lehrer ein Problem darstellt und dass sich zweitens dieses Verhalten nicht bei jeder Lehrperson zeigt (auch nicht in allen Gruppenkonstellationen). Gleichwohl wäre es verfehlt, das Verhalten des «schwierigen Schülers» nur als Reaktion auf Umstände, auf eine bestimmte Lehrperson, ein bestimmtes Schulfach, eine Gruppendynamik usw. einzustufen. Dies hiesse zu verkennen, dass hier ein junger Mensch mit einer Geschichte – einer Schulkarriere mit Ecken und Kanten oder einer belasteten Familiengeschichte – beteiligt ist. Plakative Schuldzuweisungen an die Adresse der Eltern oder an die Lehrpersonen sind zumeist Ausdruck der Ohnmacht der Beteiligten, Ausdruck der Not, der schlaflosen Nächte, des Zweifelns, der Hilflosigkeit. Oft fliessen Vereinfachungen in eigene Erklärungsversuche ein. Mal sind sie Trost, weil die Ursache nicht bei einem selbst liegt, mal bestätigen sie das eigene (Vor-)Urteil.
Doch wie könnte man den «schwierigen Schüler» allgemein definieren? Eine erste mögliche Definition liefern Klein und Krey (2001):
«Schwierig ist der Schüler, den wir als schwierig empfinden.» (A. a. O., S. 3)
Die Lehrperson wird hier zur Ursache des Erlebens, unter Umständen zur Ursache der Probleme erklärt. Das «Schwierige» liegt in ihrem persönlichen Erleben begründet. Wäre ihre Empfindung anders, wäre das Problem nicht (mehr) da. Unserer Meinung nach stellt diese Definition für die betroffene Lehrkraft keine grosse Hilfe dar und betrachtet nur eine Seite der Medaille. Diese Sicht verkennt, dass der Lehrperson ein Mensch gegenübersteht, der auch empfindet, wertet, agiert und reagiert. Die Probleme sind oft nicht nur auf einer Seite zu finden. Eventuell könnte eine andere Lehrperson mit einem anderen – allenfalls erweiterten – Handlungsrepertoire mehr Erfolg haben.
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