Andreas Grassi, ehemaliger Berufsfachschullehrer, Projektverantwortlicher für pädagogische Fördermassnahmen am EHB Zollikofen, selbstständiger Berater in Berufsbildungsfragen
Andreas Grassi hat den Geruch der Arbeitswelt seit der Kindheit eingeatmet. Sein Vater führte ein Malergeschäft im Emmental und unterrichtete angehende Gipser und Maler.
Da schien die Laufbahn vorgezeichnet: Grassi würde dereinst das väterliche Geschäft übernehmen. Aber er war Allergiker; und damit war ihm dieser Weg versperrt. Erst einmal wurde er Primarlehrer. Schon mit vierundzwanzig fand er aber als Lehrer für allgemeinbildende Fächer in die Welt der Berufsbildung, und die hat ihn seither nicht mehr losgelassen.
Mit der Zeit galt sein Engagement immer mehr den schwächeren Lernenden. Wie Lernen funktioniert, wie es gelingen kann, auch wenn die Voraussetzungen nicht günstig sind, das sind die Fragen, die ihn seither am meisten umtreiben. Seit Anfang der Neunzigerjahre übernahm Grassi immer mehr Funktionen im Bereich der Lehreraus- und Weiterbildung, er begleitete Berufsreformen und andere Projekte im Berufsbildungsbereich und publizierte Artikel und Bücher zu Fragen der beruflichen Bildung.
Seit 2011 ist Andreas Grassi offiziell im Ruhestand. Kaum pensioniert, gründete er seine eigene Firma und ist seither als Selbstständiger mit ganz unterschiedlichen Projekten in Weiterbildung und Beratung zu Berufsbildungsfragen unterwegs.
2014 erschien von ihm und Katy Rhiner, Marlise Kammermann und Lars Balzer ein Buch zu einem Thema, das ihn ebenfalls seit Langem beschäftigt: Früherfassung von problematischen Verläufen in der beruflichen Grundbildung – mit dem Ziel, rechtzeitiger und adäquater Förderung.
Wenn du an unsere Berufsbildung denkst – an den schulischen Teil –, wo siehst du derzeit die wichtigsten Brandherde?
Eines der grössten Probleme liegt für mich darin, dass ein fast ausschliesslich schweizerisches Lehrerkollegium kulturell sehr heterogene Klassen unterrichtet.
Wenn du vor einem Schulhaus stehst, siehst du auf einen Blick, was ich meine: Eine Vielzahl der Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund – die unterschiedlichsten Migrationshintergründe. Aber das ist, aus welchem Grund auch immer, in der Berufsbildung heute nach wie vor ein vernachlässigtes Thema.
Weiterbildungen zu dieser Thematik finden kaum Resonanz. Der einzige Aspekt, der jeweils ein breiteres Publikum anspricht, ist derjenige der Sprachkompetenz. Die Lehrpersonen sind sich bewusst, dass viele Jugendliche sprachliche Schwierigkeiten haben – mit den Lehrmitteln, den Arbeitsblättern. Dass da Probleme auftauchen müssen, leuchtet allen ein.
Aber die kulturellen Hintergründe, die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen von Spätmigrierten, die aus anderen Zusammenhängen und Schulsystemen zu uns kommen – all das, was dazu führt, dass sich die Jungen hier nicht zurechtfinden, wird erstaunlich wenig zur Kenntnis genommen.
In einem Deutschkurs in Bern bin ich vor einiger Zeit einer zwanzigjährigen Chinesin begegnet, einer blitzgescheiten jungen Frau. Sie erklärte mir, sie habe in der Schweiz viel Zeit verloren, bis sie verstanden habe, dass man hier fragen müsse. Sie stamme aus einer Kultur, in der «der andere» merken müsse, dass man ein Bedürfnis hat. Und sie habe zusätzlich die Schwierigkeit gehabt, als Frau Männer fragen zu müssen; das sei in ihrer Kultur nicht üblich. Es habe eine ganze Weile gedauert, bis sie sich dazu überwinden konnte.
Die Jugendlichen haben vielleicht auch ein bestimmtes Bild von Schule, wenn sie zu uns kommen, eines, das sich stark von der Realität unterscheiden kann, die sie hier antreffen.
Ich hatte einmal einen Schüler aus Mazedonien, Mentor hiess er, er kam als Spätmigrierter in die Schweiz, ein Riesenkerl, einszweiundneunzig gross. In der Schule arbeitete er nur, wenn man neben ihm stand und ihm auf die Finger sah. Irgendwann sagte ich zu ihm: Mentor, so geht das hier bei uns nicht, da meinte er nur: Sie müssen mich eben mal anfluchen. Lehrer, die so unterrichteten wie ich, würden in seiner Heimat nicht ernst genommen, den Lehrer respektiere man, wenn er laut sei – und wenn er strafen könne. Auf die Frage, wie es denn im Betrieb sei (er machte eine zweijährige Malerlehre), sagte Mentor, er arbeite ja immer mit einem Vorarbeiter zusammen. Wie es denn sei, wenn er mit zwei Kesseln Dispersionsfarbe in einer Zivilschutzanlage stehe und die streichen müsse, was er dann, völlig auf sich gestellt, anfange?
Ich hatte auch mit der Familie Kontakt. Der Vater lebte schon seit zehn Jahren in der Schweiz und wusste durchaus, wie hier der Töff läuft. Dennoch war der tiefe Graben zwischen dem mazedonischen Dorf, aus dem die Familie stammte, und der Schweiz noch immer spürbar.
Erstaunlich, dass in einer so multikulturellen Gesellschaft wie der unseren solchen Fragen derart wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Erstaunlich, ja. Nicht nur weil es so viele betrifft, auch weil es so komplex ist. Eine Chinesin und ein Mazedonier, das lässt sich wohl kaum vergleichen.
Das ist tatsächlich nicht zu vergleichen. Als Berufsfachschullehrer müsste man tiefen Einblick in andere Kulturen haben. Dabei geht es eben nicht nur um die Sprache, sondern zum Beispiel auch um die nonverbale Kommunikation, da gibt es riesige Unterschiede und Nuancen.
Res, offiziell bist du ja jetzt im Ruhestand ... erzähl doch mal, womit du dich derzeit beschäftigst.
Ja, jetzt bin ich pensioniert ... bis 2010 hatte ich neben meiner Tätigkeit fürs EHB noch meinen Schultag an der Berufsfachschule und meine Stützkurse. Dieses Kapitel ist nun schon eine Weile abgeschlossen. Der ganz gewöhnliche Regelunterricht hat mich allerdings schon seit einiger Zeit nicht mehr sonderlich interessiert. Wahrscheinlich hätte ich schon früher den Job gewechselt, wenn ich nicht irgendwann mit lernschwächeren, schwierigeren Schülern zu tun gehabt hätte. Attest-Klassen habe ich bis zum Schluss unterrichtet, das hat mich gefesselt. Ich war selbst an der Entwicklung der zweijährigen Grundbildung beteiligt.
Aber in der Lehrerweiterbildung bin ich nach wie vor aktiv. Und ich bin jetzt auch selbstständiger Unternehmer, habe eine GmbH gegründet, übernehme Aufträge und Mandate, biete Weiterbildungen an, entwickle Projekte mit Schulleitungen, solche Dinge.
Nächstens bin ich zum Beispiel am BBZ Biel. Dort will der Rektor zusammen mit einem Verantwortlichen erreichen, dass die Schule während der Ausbildung weniger Lernende verliert, dass es weniger Lehrabbrüche, weniger Unterbrüche gibt; es geht darum, sich über die Früherfassung von Problemfällen schon im ersten Lehrjahr Gedanken zu machen: Wie unterstützt man die, die es brauchen? Damit sind wir wieder beim Thema der Migranten und Fremdsprachigen. Das ist etwas, was die Lehrer kaum wahrnehmen, dass sie fremdsprachige Lernende besser unterstützen müssen. In der Regel können sich diese Jugendlichen auf Deutsch mündlich sehr viel besser ausdrücken als schriftlich – das Handicap ist also nicht ohne Weiteres ersichtlich.
Nehmen wir die Hausaufgaben: Vielen dieser Lernenden kann in der Familie niemand dabei helfen; vor allem die Frauen haben oft gar nicht die Zeit, sich mit Hausaufgaben zu beschäftigen, weil sie zum Beispiel auf die Kinder der Schwester aufpassen oder mit der Mutter zusammen putzen gehen müssen.
Solche Zusammenhänge sind vielen Lehrern nicht bewusst. Berufsschullehrer stammen häufig aus der Mittelschicht und wissen nicht, wie es in der Unterschicht aussieht. Sie kümmern sich auch kaum darum und sind dann erstaunt, wenn ein Teil der Lernenden die Aufgaben nicht gemacht haben – sie fragen aber auch nicht nach, was die Gründe sind. Das sind Themen, die man in Biel aufzunehmen beginnt.
Wie läuft ein solches Projekt ab?
Die Lehrer sensibilisieren, das ist der erste Schritt: Ich frage sie also: Wenn ihr im Sommer eine neue Klasse übernehmt, wie vermeidet ihr, einfach mit eurem Stoff anzufangen, ohne darauf zu achten, was das für Schüler sind, die in eurer Klasse sitzen? Wie erfasst ihr ihre Lernvoraussetzungen?
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