Ursula Renold
März 2015
Einleitung
« Il a le geste vif et appuyé, un peu trop précis, un peu trop rapide, il vient vers les consommateurs d’un pas un peu trop vif, il s’incline avec un peu trop d’empressement, sa voix, ses yeux expriment un intérêt un peu trop plein de sollicitude pour la commande du client, enfin le voilà qui revient, en essayant d’imiter dans sa démarche la rigueur inflexible d’on ne sait quel automate, tout en portant son plateau avec une sorte de témérité de funambule en le mettant dans un équilibre perpétuellement instable et perpétuellement rompu, qu’il rétablit d’un mouvement léger du bras et de la main. Toute sa conduite nous semble un jeu. (…) Il joue, il s’amuse. Mais à quoi joue-t-il ? Il ne faut pas l’observer longtemps pour s’en rendre compte : il joue à être garçon de café. »
Jean-Paul Sartre, L’être et le néant
Das Spiel, das Sartre hier mit distanziertem Blick seziert, ist nichts anderes als die Professionalität des Kellners, des garçon de café, der in seiner Aufgabe aufgeht und seinen Beruf verkörpert – wenigstens für die Dauer des Spiels.
Aber dieses Kellnerhandeln ist nicht bloss Rollenspiel, es ist durchaus Daseinsform. Und ausserdem verdunkelt Sartres kühle Skizze, dass jede Bewegung des Kellners mehr ist als eingeübte Fertigkeit, mehr und anderes als perfekter Ausdruck von Selbstverleugnung: In jeder Geste steckt Haltung, steckt in mühevoller Arbeit angeeignetes Wissen, das sich auch keineswegs nur auf die typischen Abläufe und Bewegungen beim Servieren bezieht, sondern ebenso auf die Karte der Getränke und Mahlzeiten, die Kaffeesorten oder die Zubereitung der angebotenen Speisen, den Charakter der Weine, auf die Traubensorten und Aromen, Struktur, Bukett und Abgang jedes Weins, auf die Eigenheiten der Kundschaft, ihre Gewohnheiten, die Behandlung, die sie von einer Bedienung erwarten. Der Kellner realisiert seine Vorstellung von perfekter Kellnerarbeit, er ist dabei nicht nur Tänzer und Akrobat, er ist auch Gedächtniskünstler, Menschenkenner, selbstverständlich Gastronom und vieles mehr. Analog ist die Coiffeuse nicht einfach eine, die Haare wäscht, schneidet oder färbt, als die wir sie uns vielleicht denken möchten, sondern auch Lebensberaterin und Laborantin, Gestalterin und Gesellschaftsdame, Kauffrau, Hautspezialistin, Psychologin und vieles mehr. Und der Lehrer wird irgendwo pendeln zwischen Einpeitscher und Entertainer, Löwenbändiger, Lerncoach und Lebensbegleiter – kein Wunder, dass Unterrichten als «unmöglicher Beruf» gehandelt wird.
Wir bewundern die Kunstfertigkeit der alten Schreiner, die ohne Schrauben, Leim und Nägel die wunderbarsten Schränke und Truhen herstellten: früher ein gewöhnlicher Bauernkasten, heute ein Sammlerstück, das vom erlesenen Geschmack des Besitzers zeugt.
Wir liegen alle gern bequem. Und wir wissen, was wir von einer Matratze oder einem Bettgestell erwarten: Komfort, genau nach unserem persönlichen Bedürfnis. Hochwertige, gesunde, dauerhafte, sorgfältig verarbeitete Materialien. Aber auch ästhetische Qualitäten.
Wir lassen uns auf die Wartelisten der Sterneköche setzen – eigentlich auch nicht mehr als «simple Köche», die aber die eingeschliffenen Routinen der unpersönlichen Qualitätsarbeit verlassen und sich auf das ungewisse, individuelle Terrain der Kunst vorgewagt haben.
Wir wünschen uns die beste Pflege, wenn wir krank sind, die beste Beratung in der Apotheke. Und die beste Pflege, die beste Beratung, das ist immer mehr als bloss das richtige Medikament gegen ein diagnostiziertes Leiden.
Die Chirurgin soll eine ruhige Hand und gute Nerven haben, aber auch akkurate Kenntnisse der menschlichen Anatomie. Was noch? Und was macht die professionelle Gipserin aus, den Tramführer, die Politikerin, den Verkäufer im Elektronikmarkt? Was dürfen wir von einer «professionellen Grabpflege» erwarten, die uns ein Friedhofgärtner auf seiner Website verspricht?
Es ist schwer, wenn nicht gar unmöglich, alle Eigenschaften zu benennen und zu beschreiben, an die wir in all diesen Fällen denken, wenn wir das Wort «professionell» verwenden. Und doch wissen wir oder haben es zumindest im Gefühl, was wir von kompetenten Berufsleuten erwarten.
Auf der andern Seite: Hingeschustert! Liederliches Gestümper, Schlamperei, Pfusch, Murks! Geschluder! Geschmiere! Flickschusterei! Einfach unprofessionell!
Wir haben für unsachgemäss ausgeführte Arbeit eine ganze Palette von Begriffen und können «Pfusch» ohne Weiteres erkennen, selbst wenn wir vom guten Handwerk vielleicht wenig Ahnung haben.
Wir schätzen die Qualität von Produkten und die Professionalität gelieferter Arbeit. Aber der Weg dahin, die Berufsbildung – jedenfalls die Grundbildung in den handwerklichen, den gewerblichen, den industriellen und Dienstleistungsberufen – geniesst nicht mehr das Ansehen, das solcher Wertschätzung entspricht. Eltern, zumindest aus der Mittelschicht, fallen fast in Ohnmacht, wenn es ihre Kinder nicht an die Maturitätsschule schaffen (oder es nicht dahin schaffen wollen). Und ihre Vertreter, die gerne unterstellen, eine Erhöhung der Maturandenzahlen könnte die Bildungssegregation und Chancenungerechtigkeit beseitigen (berechtigte Anliegen), bringen die Berufslehre unterschwellig mit Illettrismus in Verbindung: «Die grosse Mehrheit der Jugendlichen, die mit ihrer Berufsbildung und Berufsarbeit zum Teil schon weit vor dem zwanzigsten Lebensjahr beginnt, bezahlt dafür nicht selten den Preis einer bloss rudimentären Bildung», behauptet Philipp Sarasin von der Uni Zürich. Da werden, möchten wir behaupten, die Ansprüche und Anforderungen unterschätzt, die viele Berufslehren an die Jugendlichen stellen, nicht erst seit jüngst (ein Bekannter von mir, ein bekannter Strafverteidiger, erzählt, dass er in seinen Prüfungsträumen, aus denen er heute noch schweissgebadet erwacht, noch einmal die LAP als Hochbauzeichner absolviert, nicht etwa die Anwaltsprüfung). Und es werden die Möglichkeiten unterschlagen, die eine Berufslehre heute bietet, zumal wenn man sie mit einer Berufsmaturität verbindet.
Es gab und gibt auch die anderen Stimmen. Die von Rudolf Strahm, nach dem die Schweiz dem dualen System seine tiefe Jugendarbeitslosigkeitsquoten verdankt, aber auch ganz allgemein ihren hohen Lebensstandard. Der darin ein Rezept vermutet, das in anderen Staaten weltweit wirtschaftliche Probleme lösen könnte, und der das System deshalb exportieren möchte. Der 2014 wieder eindringlich vor der Akademisierungsfalle warnt, in die unser Bildungssystem geraten könnte.
Oder auch die des Philosophen und Publizisten Ludwig Hasler: «Jugendlichen kann vielleicht nichts Besseres passieren als eine ordentliche Berufslehre. Als Polymechaniker, als Landschaftsgärtnerin, als Bäcker-Konditor sind sie garantiert gefragte Leute. Fachkräfte braucht das Land, und wer gebraucht wird, kippt nicht so schnell ins Burnout. Und falls sie die Lust auf Bildung packt: Wir leben in der Schweiz, dem Land mit der sensationellen Berufsbildung.» Derselbe Hasler, an anderer Stelle: «Berufsbildung ist Bildung mit Hand und Fuss», wobei er leider den Kopf vergisst, der an einer Berufsausbildung durchaus beteiligt ist.
Im Jahr 2014 war allerdings ohnehin alles etwas anders: Zum zehnjährigen Jubiläum des Berufsbildungsgesetzes dekretierte der Bund ein Jahr der Berufsbildung, mit vielerlei Initiativen und Veranstaltungen. Erstmals wurden die schweizerischen Berufsmeisterschaften am selben Ort durchgeführt: fünf Tage, siebzig Meisterschaften, tausend Wettkämpferinnen und Wettkämpfer und hundertfünfzigtausend begeisterte Besucherinnen und Besucher auf dem Bernexpo-Areal. Das Schweizer Farbfernsehen strahlte die Doku-Reihe «Mini Lehr und ich» aus, deren fünf Protagonistinnen und Protagonisten, die Lehrlinge Giuliano Casini, Pferdesportsattler, Tobias Schubiger, Gleisbauer, Dentalassistentin Sophie Wiedmer, Detailhandelsfachfrau Luanda Krasniqi und Bäcker-Konditor Norman Hunziker, fast ein wenig zu Kultfiguren wurden: Freizeit-Model Luanda Krasniqi verdankt der Reihe eine Schlagzeile im «Blick», einen Platz unter den «Maxim Hot 100» und einen Auftritt vor tausend Berufsfachschullehrerinnen und -lehrern im Albisgüetli. Und der Geleisebauer Schubiger eine junge Liebe.
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