Die Kontraktion der Haarzelle verstärkt und präzisiert die Frequenzinformation – damit wir einzelne Instrumente eines Symphonieorchesters heraushören können. Störungen können den sogenannten »Motor-Tinnitus« verursachen, unkontrollierte und unkoordinierte Kontraktionen der Haarzelle. Das Besondere an diesem Tinnitus ist, dass er durch äußere Schalleinwirkung verschwinden kann: Geräusche von Elektrogeräten, Musikinstrumenten oder Fahrgeräusche. Man nennt dieses Phänomen Residuale Inhibition . Ein HNO-Arzt kann diese Störung feststellen. Der Motor-Tinnitus lässt sich erfolgreich mit Tinnitus-Maskern, die Dauertöne oder Rauschen erzeugen, behandeln.
Störung der Signaltransduktion an der Synapse
Dies ist ein wichtiges Forschungsgebiet, bei dem es um Nervenbotenstoffe geht, die für Depressionen, Hirnleistungsstörungen, chronischen Schmerz und Tinnitus eine Rolle spielen. Man erhofft sich hier Fortschritte für die Behandlung dieser Störungen durch positive Beeinflussung des synaptischen Funktionssystems.
Die zentrale Hörbahn
Damit akustische Informationen zu Hörempfindungen werden, bedarf es weiterer Verarbeitungsschritte, die von einem Netzwerk verschiedener Hirnzentren durchgeführt werden. Man nennt dies zentrales Hören (zentrale Hörbahn). Im Heimstudiovergleich wäre dies die auf einem Computer installierte Software. Damit wird Audiomaterial am digitalen Mischpult mit Filtern, Effekten und Equalizern bearbeitet. Am Ende steht der finale Audiomix eines Musikstücks.
Stammhirn
Zunächst gelangen Nervensignale der Sinneszellen im Innenohr über den Hörnerv zu den Schneckenkernen (Nuclei cochleares) , die im Stammhirn (Medulla oblongata) liegen. Dort wird blitzschnell entschieden, ob die akustischen Informationen als wichtig/unwichtig, bekannt/unbekannt oder ungefährlich/gefährlich zu bewerten sind. Das Stammhirn kontrolliert lebenswichtige Grundfunktionen wie Atmung und Herzschlag. »Unwichtige« Geräusche wie das eigene Schluckgeräusch oder ein rauschender Ventilator werden ausgefiltert. Plötzliche oder unbekannte Geräusche können aber sehr schnell eine Alarmreaktion auslösen, die das vegetative Nervensystem aktiviert: Der Blutdruck steigt; Stresshormone wie Adrenalin werden ausgeschüttet; der Körper macht sich bereit für »Flucht oder Kampf«. Die enge Verbindung des Gehörs mit Stammhirnfunktionen führt zum Überlebensvorteil (z. B. auditive Reflexe). Man denke an den Schlaf, der bei Wahrnehmung ungewöhnlicher Geräusche rasch unterbrochen wird (»Ammenschlaf«). Klangverarbeitung im Stammhirn funktioniert unbewusst.
Anatomie der Hörbahn (Auditives System)
Auch die Ohrgeräusche bei Tinnitus können eine Alarmreaktion auslösen, wenn ihre Herkunft unbekannt ist und sie demnach nicht einzuordnen sind. Es besteht die Gefahr, dass dem Geräusch besondere Aufmerksamkeit geschenkt, dass das Geräusch mit den Qualitäten »wichtig, gefährlich und störend« ausgestattet wird – und dass am Ende die Wahrnehmung des Tinnitus »gelernt« bzw. chronisch wird. Das Stammhirn ist der Ausgangspunkt eines späteren Tinnitus-Gedächtnisses.
Mittelhirn
Die zweite Station der akustischen Informationen ist das Mittelhirn (Colliculus inferior) . Hier werden beispielsweise Laufzeit- und Intensitätsunterschiede der Hörinformationen beider Ohren ausgewertet. Das ermöglicht die Ortung einer Schallquelle im Raum. Gehörtes wird mit emotionalen Qualitäten versehen (positiv/negativ) und das Gehirn sucht in der eigenen Klangbibliothek nach bereits vorhandenen, vergleichbaren Hörerfahrungen. Das Mittelhirn ist der Ort, wo »Ohrwürmer« entstehen oder Musikvorlieben (Fankultur) geprägt werden, wo sympathische oder unsympathische Stimmen definiert sind. Taucht das akustische Ereignis erneut auf, wird auch das dem Klang zugeordnete emotionale Prädikat (positiv/negativ) aufgerufen. Klangverarbeitung im Mittelhirn funktioniert unbewusst.
Beim Tinnitus wird dieser Vorgang dann zum Problem, wenn etwa das Grillenzirpen des Sommers (positiv) auch im Winter vorhanden ist (negativ), wenn weit und breit keine Grille auszumachen ist, oder wenn der Lüfter des Computers (positiv) auch dann rauscht, wenn der Computer ausgeschaltet ist (negativ). Ein und dasselbe Geräusch kann demnach positiv oder negativ emotional besetzt sein – je nachdem, ob das Gehirn eine nachvollziehbare Erklärung für das Geräusch findet oder nicht. Bleibt das Geräusch unerklärlich, wird ihm vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Angst- und Stressreaktionen verstärken die Fixierung der Ohrgeräusche. In den 1960er-Jahren glaubte man, das Ohrwurm- bzw. Tinnitus-Problem dadurch zu lösen, dass man den Hörnerv durchtrennt. Ein Irrtum. Das betreffende Ohr war nun taub und der Tinnitus noch da, stärker als zuvor. Eine Tragödie für die damaligen Patienten, aber ein Fortschritt für die Tinnitus-Forschung.
Großhirn
Über das Zwischenhirn verlaufen die Fasern der Hörstrahlung bis zum auditiven Neocortex im Temporallappen des Großhirns. Hier befinden sich Regionen für das Lautgedächtnis, die Spracherkennung und für das Sprachverständnis. Die gesamte Hörbahn, von den Hörsinneszellen bis zum Großhirn ist hochgradig (auf- und absteigend) vernetzt. Insbesondere die Anbindung an das Limbische System hat für das Hören große Bedeutung. Hier werden Klänge mit emotionalen Qualitäten verknüpft. Klangverarbeitung im Großhirn kann man bewusst beeinflussen.
Ist der Tinnitus mit Gefühlen der Angst, Niedergeschlagenheit oder mit Stress besetzt, eröffnet sich die Möglichkeit, Gefühlsqualitäten »umzuprogrammieren«. Das Ziel ist, den Gefühlswert der Ohrgeräusche von »negativ« auf »positiv« zu verändern. Das nimmt den Leidensdruck und funktioniert tatsächlich gut mit manchen Behandlungsmaßnahmen (Kognitive Verhaltenstherapie, Tinnitus-Retraining-Therapie, Tinnitus-Atemtherapie u. a.) – und mit Geduld und Selbstvertrauen.
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