Jenseits der Hörschnecke gibt es keine explizite medizinische Therapie des Tinnitus. Andererseits ist vor allem das unbegrenzte Lernvermögen des Gehirns der Schlüssel zur Lösung des Problems.
Man hat erkannt, dass es darum geht, die Bewertung des Tinnitus zu verändern. Ungewohnte Geräusche werden naturgemäß als bedrohlich empfunden und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Je mehr Aufmerksamkeit Geräusche bekommen, umso größer ist die Gefahr, dass sie sich als »Tinnitus-Gedächtnis« im Kopf dauerhaft einnisten. Aus diesem Grund besteht die erfolgreichste Strategie darin, sich gewissermaßen an die Ohrgeräusche »zu gewöhnen«. So versuchen Sie, die Bedrohlichkeit und negativen Assoziationen des Tinnitus zu beseitigen. Sie lenken Ihre Aufmerksamkeit vom Ohrgeräusch ab und geben ihm den Status vollkommener Bedeutungslosigkeit. Viele Betroffene profitieren davon, dass sie mit Geduld und Zuversicht ihr Gehirn so »umprogrammiert« haben, dass der Tinnitus keine Rolle mehr spielt, keine Macht mehr über die seelische Verfassung hat – oder sogar verschwindet. In jedem Fall erreichen Sie wieder eine Lebensqualität, die Sie schon verloren glaubten. Erfolgreiche Tinnitus-Therapie bezieht den ganzen Menschen ein: Körper, Psyche und Seele. Sie werden sehen, es lohnt sich, diesen Weg zu gehen.
Die Diagnose Tinnitus hinterlässt oft ein großes Fragezeichen bei Betroffenen .
Der vorliegende kompakte Ratgeber stellt den Tinnitus kurz und knapp und dabei so umfassend und aktuell wie möglich vor. Informationen über die Funktionen des Ohrs und des Gehörs, über das Wesen, die vielseitigen Ursachen, die Diagnose und die Behandlungsoptionen von Ohrgeräuschen sind der erste und wichtigste Schritt zur Bewältigung des Tinnitus-Problems.
Gehen Sie davon aus, dass Sie zu einem neuen, positiven Lebensgefühl zurückfinden und die Lust am Leben wiederentdecken, wenn Sie erleben, dass Sie die Macht besitzen, etwas zu verändern. Es spricht nichts dagegen! Sie können nur gewinnen.
Was ist das, Tinnitus?
Tinnitus ist das Symptom einer veränderten oder gestörten Hörempfindung. Die lästigen Ohrgeräusche werden nur von den Betroffenen wahrgenommen: Brummen, Pfeifen, Zischen, Rauschen, Knacken, Klopfen … Einen Bezug zu einer äußeren Schallquelle gibt es nicht. Setzen sich die Geräusche dauerhaft im Kopf fest, steigt der Leidensdruck.
Weltmusik
Das Auge führt den Menschen in die Welt – das Ohr bringt die Welt in den Menschen. In Zeiten der modernen digitalen Bilderflut gerät die Geräuschkulisse unserer Lebenswelt allzu leicht ins Abseits. Bilder dominieren. Geräusche und Klänge werden nur noch unterschwellig wahrgenommen. Das bedeutet aber keineswegs, dass Schallempfindungen wirkungslos bleiben. Im Gegenteil! Alles, was wir hören, wird in einem komplizierten Klangverarbeitungsprozess im Gehirn aufbereitet, bewertet und mit passenden Gefühlen versehen. Geräusch und Klang sind Sinnlichkeit pur – eigentlich. Wären da nicht Lärmemissionen, die einen permanenten körperlichen Alarmzustand verursachen.
Wir schließen die Augen, und die äußere Bilderwelt verschwindet. In der Nacht erholt sich das Auge von der optischen Reizüberflutung tagsüber. Aber das Ohr schläft nie! Es ist immer in Betrieb, 24 Stunden, rund um die Uhr, Tag und Nacht, lebenslang. Das Ohr ist das erste und wichtigste Sinnesorgan des Menschen: Es funktioniert bereits vor der Geburt, und es schließt die Pforten der Wahrnehmung ganz zuletzt, wenn das Leben erlischt. Ja sicher, Lärm ist Leben. Lärm ist aber auch Stör- und Stressfaktor Nummer eins. Darauf weist die Tatsache hin, dass immer mehr Menschen von den hartnäckigen SOS-Morsezeichen eines Tinnitus oder dem Absturz des Gehörs betroffen sind. Wenn sich lästige Geräusche im Kopf festsetzen, wird man sie kaum wieder los. Sind unsere Ohren diesem anflutenden Schall-Tsunami gewachsen? Eher nicht. Wenn die äußere Klangwelt chaotisch, laut und lärmend ist, entsteht dann nicht eine ebensolche irritierende innere Klangwelt – ein Leben latenter Beunruhigung? Das klingt wahrscheinlich, oder? Vielleicht sollten wir uns mehr Zeit nehmen, genauer hinzuhören.
Tinnitus ist keine Erfindung der modernen Zivilisation. Es hat ihn schon immer gegeben. Das belegen zahlreiche Beschreibungen von Ohrgeräuschen in literarischen, künstlerischen, medizinischen und wissenschaftlichen Werken der vergangenen Jahrhunderte.
Das gepeinigte Ohr in der Hölle, Hieronymus Bosch (1480–1505) .
Ohr und Gehör
Das Ohr ist ein faszinierendes Sinnesorgan. Es verwandelt Schallwellen in komplexe Hörempfindungen. Wir können uns im Raum orientieren und verlieren nicht die Balance, weil das Ohr an das Gleichgewichtsorgan gekoppelt ist. Wir können die Richtung und Entfernung von Schallquellen bestimmen, da wir zwei Ohren haben, die den Schall mit Laufzeitdifferenz aufnehmen. Wir können hochaufgelöst Töne und Geräusche wahrnehmen, laut und leise, von sehr tiefen (20 Hz) bis zu sehr hohen Tönen (maximal 20.000 Hz), und wir können uns von der Macht der Musik verzaubern lassen.
Das Ohr besteht aus verschiedenen Komponenten, die Schall aufnehmen, weiterleiten und auf Nervenzellen übertragen. Nach der Umwandlung in elektrische Signale gelangen diese über den Hörnerv zum Gehirn, wo sie in der zentralen Hörbahn in Klangempfindungen verwandelt werden. Der Weg des Schalls verläuft über die Ohrmuschel, den Gehörgang, das Trommelfell, die Gehörknöchelchen, die Hörschnecke und den Hörnerv.
Der periphere Hörapparat
Die Ohren sind die Schallaufnehmer, die »Mikrofone« des Körpers. Jedes Ohr besteht aus dem äußeren Ohr, dem Mittel- und Innenohr. Im Innenohr befindet sich die Hörschnecke, der körpereigene »Tonabnehmer«, in engster Nachbarschaft zum Gleichgewichtsorgan.
Das menschliche Gehör
Außenohr
Das äußere Ohr umfasst die sichtbare Ohrmuschel, das Ohrläppchen und den äußeren Gehörgang. Das Trommelfell ist die Grenze zwischen Außen- und Mittel-/Innenohr. Da die Ohren rechts und links am Kopf mit räumlichem Abstand angebracht sind, erreicht der Schall die Ohren mit zeitlicher Verzögerung. So kann man durch das Gehör beurteilen, ob der Schall von vorne, hinten, oben oder unten kommt. Das ist eine bedeutende Entwicklung der Evolution, die einen Überlebensvorteil verschafft.
Der Gehörgang dient der Weiterleitung des Schalls. Er ist mit feinen Flimmerhärchen ausgestattet, die Fremdkörper herausfiltern. Damit der Schall möglichst ungestört das Trommelfell erreichen kann, wird der Gehörgang von glättendem Ohrenschmalz eingefettet (Cerumen) . Ohrenschmalz wird im äußeren Gehörgang produziert und von dort immer nach außen transportiert. Es wirkt zudem antibakteriell und schützt vor Entzündungen und Ohrekzemen.
In der Nachbarschaft des Gehörgangs befinden sich vorne das Kiefergelenk und unten der erste Wirbel (Atlas) der Halswirbelsäule. Da diese ohrnahen Regionen mit Nerven stark quervernetzt sind, können hier Ursachen von Ohrenschmerzen oder Tinnitus liegen.
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