Maartje de Visser , Dr. iur, LL.M (Maastricht), MJur (Oxford), Associate Professor für Law, Singapore Management University
Bruno de Witte , Dr. iur, Professor für European Union Law, Maastricht University
Pedro Cruz Villalón
§ 110 Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa
I. Die Perspektive des europäischen Rechtsraums: Begriffliche und methodologische Prämissen 1 – 29
1. Einleitung 1 – 7
2. Der Ausgangspunkt: Die justiziable Verfassung 8 – 12
3. Zur „Dekonstruktion“ des heutigen Begriffs 13 – 16
4. Zum zeitlichen Rahmen 17 – 25
5. Die Perspektive des europäischen Rechtsraums 26 – 29
II. Ansätze der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Parallele Entwicklungen bis 1918 30 – 69
1. Richterliches Prüfungsrecht 31 – 44
a) Eine fortdauernde Frage 31 – 34
b) Die monarchische Schwierigkeit 35 – 39
c) Die nationale Schwierigkeit 40 – 42
d) Eine fast existenzielle Frage: Die Verfassung in den skandinavischen Ländern 43
e) Der portugiesische Sonderweg: Diffuse Normenkontrolle in der Verfassung von 1911 44
2. Staatsgerichtsbarkeit (Verfassungsstreitigkeiten) 45 – 56
a) Verfassungsorganstreit 50 – 52
b) Föderale Streitigkeiten 53 – 56
3. Bürgergerichtsbarkeit (Grundrechte-Gerichtsbarkeit) 57 – 64
4. Zwischenbilanz bis 1918: Fragmente 65 – 69
III. Verfassungsgerichtsbarkeit als evolutionäre europäische Errungenschaft: Konvergierende Entwicklungen seit 1918 70 – 164
1. Die Zwischenkriegszeit: Zwischen Kontinuität und Abbruch (1918–1939) 71 – 99
a) Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts: Kontinuitätslinien 72 – 74
aa) Kontinuität im stabilen Konstitutionalismus 72
bb) Kontinuität auch im neuen Konstitutionalismus 73, 74
b) Der Fall Weimar, zwischen Kontinuität und Abbruch (1919–1933) 75 – 80
c) Der Kelsenian moment 81 – 98
aa) „Hauptstadt Wien“: Der Verfassungsgerichtshof (1920–1933) 85 – 89
bb) Brno: Das tschechoslowakische Verfassungsgericht (1920–1938) 90 – 94
cc) Madrid: Das „Tribunal de Garantías Constitucionales“ (1931–1939) 95 – 97
dd) Liechtenstein (1925) 98
d) Bilanz der Zwischenkriegszeit 99
2. Konstante Ausbreitung der Verfassungsgerichte in Westeuropa (1945–1989) 100 – 132
a) Die Nachkriegszeit: Verfassungsrestaurierung und Verfassungsneuschöpfung 101 – 109
aa) Verfassungsrestaurierung: Der österreichische Verfassungsgerichtshof 102, 103
bb) Hauptstadt Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht 104 – 107
cc) Die Corte costituzionale 108, 109
b) Übergangsjahre (1956–1974): Erste Schritte in der Umwandlung des französischen Conseil constitutionnel 110 – 115
c) Verfassungsnachholung in Südeuropa (1974–1978) 116 – 122
aa) Griechenland 117
bb) Spanien 118 – 120
cc) Portugal 121, 122
d) Verfassungsgerichte via Verfassungsänderung: Belgien, Luxemburg, Andorra 123 – 127
e) Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Grenze? Verfassungsinterpretation als primäre Aufgabe der Verfassungsgerichte 128 – 132
3. Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Mauer (1989–2009) 133 – 162
a) Die Verfassungsgerichte der europäischen Wende 135 – 153
aa) Polen 139 – 141
bb) Ungarn 142 – 146
cc) Tschechien 147 – 149
dd) 1989: Ein harter Test für die Verfassungsgerichtsbarkeit 150 – 153
b) Supranationale Verfassungsgerichte? EGMR und EuGH 154 – 162
aa) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 155, 156
bb) Der Gerichtshof der Europäischen Union 157 – 161
cc) Der Verbund der europäischen Verfassungsgerichte 162
4. 1918–2009: Das Jahrhundert der Verfassungsgerichte 163, 164
IV. Gesamtrückblick: Das Evolutionäre der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa 165 – 168
Bibliographie
Allgemeine Hinweise
Abkürzungen |
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
BVerfGE |
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts |
EGMR |
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte |
EMRK |
Europäische Menschenrechtskonvention |
EuGH |
Gerichtshof der Europäischen Union |
ICON |
International Journal of Constitutional Law |
NVwZ |
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht |
JöR |
Jahrbuch des öffentlichen Rechts |
VfSlg |
Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes |
VVDStRL |
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer |
I. Die Perspektive des europäischen Rechtsraums: Begriffliche und methodologische Prämissen[*]
1
Das vorliegende Kapitel befasst sich mit der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa betrachtet aus der Perspektive des europäischen Rechtsraums. So gesehen, legt Europa diese evolutionäre [1] Behandlung der Verfassungsgerichtsbarkeit in doppelter Weise nahe. Erstens weist dieser Fragenkomplex auf einen geographischen Raum – Europa als Kontinent – im konventionellen Verständnis seiner Grenzen hin. In dieser Beziehung ist es das Ziel, die allgemeinen Züge der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, ausgehend von den Entwicklungen in den jeweiligen europäischen Staaten, darzustellen.[2] Soweit es sich um eine Entwicklung handelt, deren Bezugspunkt ein so bedeutungsbeladener Gegenstand wie Europa ist,[3] muss das rein räumliche Verständnis durch ein historisch-kulturelles Verständnis von Europa, das sowohl den Kontinent als Ganzes als auch die einzelnen europäisch geprägten Staaten einbezieht, ergänzt werden.[4]
2
Zweitens bestimmt Europa die folgende Behandlung insofern, als dieses Kapitel einer vorgegebenen Perspektive folgt, die durch die Bezeichnung „europäischer Rechtsraum“ ausgedrückt wird.[5] Die Modernität, die Jugend sogar, dieses Konzepts, aus dessen Perspektive diese Evolution dargestellt wird, verleiht der gegenwärtigen Lage der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa besondere Bedeutung, deren „Vorläufer“ es zu erforschen gilt.
3
Der Kontext für diese evolutionäre Behandlung ist das Ius Publicum Europaeum [6] als „wissenschaftliches Gemeinschaftswerk“,[7] dessen methodologisches Gravitationszentrum die Rechtsvergleichung bildet.[8] Dieser für die Gesamtkonzeption des Werkes maßgebliche rechtsvergleichende Ansatz wird auch in diesem evolutionären Kapitel beibehalten. Es ist also nicht beabsichtigt, an dieser Stelle einen Exkurs in die Verfassungsgeschichte zu unternehmen. Die Autorinnen und Autoren der nationalen Berichte des vorhergehenden Bandes haben sich, wenn es erlaubt ist, für sie zu sprechen, bei der Darstellung der Vorläufer und/oder der Entwicklung der jeweiligen Institutionen der Verfassungsgerichtsbarkeit an den vergleichenden methodologischen Ansatz gehalten.[9] In ähnlicher Weise soll auch hier, wo es darum geht, hauptsächlich auf der Grundlage der zur Verfügung gestellten nationalen Berichte ein evolutives Gesamtkonzept der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa vorzustellen, das vergleichende Verfassungsrecht die Oberhand behalten. Die folgende Darstellung hat, unabhängig von der unentbehrlichen Zusammenarbeit zwischen Rechtsvergleichungs- und Rechtsgeschichtswissenschaft im europäischen Raum,[10] keinesfalls das Ziel, die vergleichende Verfassungsgeschichtsschreibung als solche zu ersetzen: Vielmehr setzt sie letztere voraus.[11] Kurz gesagt wird der Ausgangspunkt nicht so sehr der einer vergleichenden Verfassungsgeschichte als vielmehr der einer retrospektiven Verfassungsvergleichung sein.[12]
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