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Dass diese Aufgabe an erster Stelle die Rechtsvergleichung betrifft, ist auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen, eine Verfassungsgeschichte, und in der Folge eine Geschichte der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit zu vermitteln.[13] Man ist vielmehr mit einer Vielzahl verschiedenartiger nationaler Narrative konfrontiert, an Hand derer evolutionäre Gemeinsamkeiten zu identifizieren sind. Erst heute ist es möglich, ohne die Komplexität des europäischen Verfassungsverbunds[14] außer Acht zu lassen, von einem integrierten europäischen Rechtsraum zu sprechen.[15] Was die Zeit zuvor angeht, hätte man sich, um von einem Rechtsraum zu sprechen, nur auf die wohl elastischere Kategorie „Kultur“ beziehen können, in unserem Falle auf die Verfassungskultur Europas.[16]
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Des Weiteren weisen die nationalen Berichte nicht nur auf eine Pluralität von historischen Entwicklungen hin, sondern ebenfalls auf eine Pluralität von Ideen .[17] So wie die Verfassung schon vor ihrer Verwirklichung am Ende des 18. Jahrhunderts „vorgedacht“ wurde,[18] so wurde auch die Verfassungsgerichtsbarkeit schon vor ihrer Einführung in Europa in ihren verschiedenartigen Ausformungen angedacht. Jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: während die Legitimität der Verfassung, nachdem sie einmal zustande gekommen war, als solche nicht weiter in Frage gestellt wurde, wurden sowohl die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit als solche als auch die Meinungen über sie fortlaufend debattiert. Und das vor allem, um nicht über die Erfahrungen mit derselben zu sprechen. Nicht umsonst hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit unter allen technischen Erfindungen des Verfassungsarsenals als die unbequemste in Europa erwiesen.[19]
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Im Gegensatz dazu stellt sich am Ende dieser Entwicklung und mit Blick auf den Rechtsraum Europa sogleich die Frage nach der ultimativen Weitergeltung der Rechtsvergleichung als Methode.[20] Denn es scheint, dass man inzwischen an einem Punkt angekommen ist, an dem die an sich vergleichende Untersuchung dieser Evolution nicht mehr als Rechtsvergleichung stricto sensu angesehen werden kann. Die Aussage, dass man bis zum Ende dieser Entwicklung auf dem festen Boden der Vergleichung bleibt, ist an sich nicht inkorrekt, verlangt aber der Nuancierung. Sie ist insofern zutreffend, als die jeweiligen hier analysierten Entwicklungen anfangs – und teilweise immer noch – als national gelten. Gleichzeitig aber zeigen sich diese Entwicklungen bisweilen in einem anderen Licht. Einerseits stellen sich die Entwicklungen, die bisher als rein national betrachtet wurden, jetzt als europäisch dar, d.h. als Vorläufer einer inzwischen als gemeinsam empfundenen Vergangenheit.[21] Andererseits weicht, was ihre letzten Entwicklungen betrifft, ihre bisherige Parallelität nun einem Zustand der Verflechtung und gegenseitigen Bedingtheit in einem neuen komplexen, eben europäischen Rechtsraum. Das bedeutet, dass man am Ende in einem einzigen, jedoch komplexen Raum arbeitet, genauer gesagt in einem durch den Begriff der Supranationalität geprägten Raum. Das alles könnte methodologisch bedeuten, dass die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet dazu berufen ist, die Form einer integrierten Vergleichung anzunehmen.[22]
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Was die Identifikation des Forschungsgegenstands sowie die Methodik dieses Kapitels betrifft, so sei allgemein auf die Vorgaben der Herausgeber in der Einleitung zum vorhergehenden Band verwiesen.[23] Auf dieser Grundlage ist im Folgenden vor allem auf die Besonderheiten einzugehen, die eine möglichst kompakte Darlegung der vergleichenden Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa verlangt.
2. Der Ausgangspunkt: Die justiziable Verfassung
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„Verfassungsgerichtsbarkeit ist jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll“: Diese klare Feststellung von Hermann Mosler vor nun bald sechs Jahrzehnten beim Heidelberger Kolloquium[24] soll auch als Ausgangspunkt der vorliegenden evolutiven Behandlung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa fungieren. Es gilt auch hier, der Zentralität des Begriffs „Gerichtsbarkeit“ die Oberhand zu geben, wo der Vollständigkeit halber alle möglichen historischen Erscheinungen der weitergehenden Kategorie des „Schutzes der Verfassung“ einbezogen werden könnten, von denen allerdings nicht wenige von der Idee der Gerichtsbarkeit weit entfernt sind.[25] Eine Darstellung der Entwicklung des gesamten Komplexes des Schutzes der Verfassung in vergleichender Perspektive wäre bestimmt nicht uninteressant, geht aber über die Grenzen dieser Arbeit hinaus. Deswegen wird hier konsequent und von Anfang an von der Behandlung der Vielfalt der Mechanismen des Verfassungsschutzes, die das vergleichende Recht in der Vergangenheit bietet, abgesehen.[26]
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Zur weiteren Erläuterung des oben genannten Schlüsselbegriffs dieser Arbeit bietet sich die Verwendung des Terminus „Justiziabilität“ an.[27] Die knapp gefasste Aussage hierzu dürfte wohl lauten: „So viel Verfassungsgerichtsbarkeit wie justiziable Verfassung“. Dies bringt – zugestanden – einen weiten Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit mit sich, in dem Sinne, dass man, wo immer die Verfassung vom Richter unmittelbar „angewendet“ wird, schon im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit als gerichtliche Garantie der Verfassung wäre. Dies ist aber eine unvermeidliche Folge, wenn man mit diesem Begriff konsequent weiterarbeiten will.
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Kurz gesagt impliziert eine justiziable Verfassung dreierlei. Sie setzt an erster Stelle ein rechtliches Verständnis der Verfassung voraus. Das ist eine unmittelbare Folge der elementaren Notion der Justiz, die per definitionem einen Rechtssatz voraussetzt, um gerichtlich zu entscheiden. Geht man von der Idee einer „politischen“ Verfassung aus, deren rechtliche Qualität in Zweifel gezogen wird, könnte diese als „politische“ Verfassung verteidigt werden, wobei dann aber andere Institute des Verfassungsschutzes in Betracht kämen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Begriff „Verfassungswidrigkeit“ im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, was ebenfalls eine Form des Verfassungsschutzes darstellt.[28] Solange aber die Verfassung nicht als Teil der jeweiligen Rechtsordnung angesehen wird, wird ihre Garantie nur schwerlich in den Händen der Justiz liegen können. Dieses rechtliche Verständnis der Verfassung setzt seinerseits eine Reihe von Grundbedingungen voraus, die hier nur kurz erwähnt werden können. Es geht dabei um die moderne Verfassung, also die geschriebene, datierte, unterzeichnete, verkündete und veröffentlichte Verfassung:[29] also letzten Endes die Merkmale des modernen Gesetzes.[30] Es genügt hier, darauf hinzuweisen, dass die anhaltenden Mängel der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa auf die entsprechenden nicht minder anhaltenden Schwächen des europäischen Konstitutionalismus zurückzuführen sind.
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Zweitens setzt Justiziabilität eine vindizierbare Verfassung voraus, d.h., dass sie die rechtliche Möglichkeit eröffnet, sei es von Privatpersonen oder von öffentlichen Organen in Anspruch genommen zu werden. Auch in dieser Beziehung sollte die Verfassung sich vom Rest der Rechtsordnung nicht unterscheiden.
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Schließlich bedeutet Justiziabilität , dass die Inanspruchnahme der verschiedenen aus der Verfassung hergeleiteten Rechtspositionen, sowohl organisch wie funktionell, verfahrensmäßig, also prozedural erfolgt. Dies verlangt die Einsetzung eines unabhängigen Organs, das nach einem geregelten Verfahren und nach den Grundsätzen der wesentlichen Verfahrensgarantien agiert.
3. Zur „Dekonstruktion“ des heutigen Begriffs
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