Alexanders Blick glitt wieder hinüber zu ihren Mitgefangenen. Sie hatten ihre Köpfe von ihm abgewandt und so musterte er ungeniert ihr Profil. Eine scharf geschnittene Nase, die sich nach unten hin deutlich verbreiterte, braune Hautfarbe und Haare, die wie Kohle glänzten. Einer der beiden Männer, die er auf Mitte dreißig schätzte, hatte seine Nase mit etwas durchbohrt, das aussah wie Holz oder Knochen. Beide trugen Ohrringe in leuchtendem Rot und sanftem Grün.
»Entschuldigen Sie«, begann Alexander und hob eine Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Hallo?« Die beiden Gefangenen würdigten ihn keines Blickes. Mühsam erhob Alexander sich und ging hinüber auf ihre Seite der Zelle.
»Hallo«, versuchte er es noch einmal und streckte seine Hand aus. Diesmal musterten die beiden ihn aus ihren dunklen, unergründlichen Augen. Er ließ seine Hand wieder sinken.
»Also … Können Sie uns vielleicht sagen, wo wir sind?« Keine Reaktion.
»Dann vielleicht, was mit uns geschehen wird? Was hat dieser Mann mit uns vor?« Die einzige Antwort, die die beiden ihm gaben, war Schweigen. »Will er uns wirklich verkaufen?« Verzweiflung machte sich in Alexander breit. Es musste doch irgendetwas aus ihnen herauszukriegen sein. »Warum hat man uns gefangen genommen? Und warum Sie?«
Die Augen des einen Mannes hefteten sich wieder auf ihn und sein Gesicht verzog sich verächtlich. Dann schnaubte er und wandte sein Gesicht wieder zur Wand.
»Lass es gut sein, Alex, die sagen uns nichts. Vielleicht verstehen sie uns auch gar nicht.« Nic streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn wieder hinab auf den Boden. »Ruh dich lieber aus, ich habe das ungute Gefühl, wir können unsere Kräfte noch gebrauchen.«
Eine Weile später, Alexander hatte in der dunklen Zelle jedes Zeitgefühl längst verloren, öffnete sich die Tür endlich wieder. Licht flutete herein und alle Gefangenen blinzelten in der plötzlichen Helligkeit.
Jim erschien in der Tür. »Alle in einer Reihe aufstellen, macht keinen Unfug, dann passiert euch auch nichts«, bellte er und wedelte mit den Händen. »Los, los!«
Alexander und Nic erhoben sich und traten zur Tür.
Jims Blick fiel auf Oliver. »Was ist denn mit dem los? Der ist doch jetzt nicht etwa verreckt, oder?«
Der genervte Tonfall des Mannes reizte Alexander, doch er bemühte sich, völlig ruhig zu antworten. »Nein, er ist nur ohnmächtig. Das ist die Anstrengung und wir hatten ja auch nichts zu trinken. Er muss unbedingt zu einem Arzt, bitte …«
Abrupt wurde er von Jim unterbrochen. »Jaja. Spar dir deine traurige Geschichte für jemanden, den es interessiert. Ihr beide tragt ihn einfach, klar?« Mit schmutzigen Fingern deutete er auf Nic und Alexander, dann verschwand er. Mit Mühe nahmen sie Oliver in ihre Mitte und trugen ihn aus der Hütte. Obwohl er kaum etwas wog, bereitete sein Gewicht ihnen einige Schwierigkeiten. Auch sie waren mit ihren Kräften fast am Ende, Alexanders Beine waren wackelig, bei jedem Schritt zitterten die Muskeln in seinen Oberschenkeln, als stünden sie unter Strom. Sein Kopf dröhnte, seine Zunge klebte am Gaumen und alles in ihm schrie nach Wasser. Und Nic erging es sicher nicht viel besser.
Außerhalb der Hütte war es noch wärmer. Es musste jetzt später Nachmittag sein und der Nebel in der Stadt hatte sich noch weiter verdichtet. Zwar konnte Alexander die Häuser im Umkreis erkennen, doch über allem lag dieser merkwürdige Schleier.
Jim deutete auf das Steinpodest in der Mitte des Platzes vor der Hütte und Alexander stieg umständlich hinauf. Mit einigen Schwierigkeiten zog er Oliver hoch, während Nic von unten schob. Bei ihren Bemühungen öffnete Oliver die Augen und sah sich hektisch um.
»Ganz ruhig, alles in Ordnung.« Alexander nickte ihm zu. »Dir passiert nichts.« Er sah, dass Oliver etwas sagen wollte, doch kein Wort kam aus seinem Mund. Seine Lippen hatten tiefe Risse und die Mundwinkel waren verkrustet und bluteten an manchen Stellen.
»Wasser«, brachte er schließlich krächzend heraus. Bedauernd schüttelte Alexander den Kopf. »Wir haben keins, noch nicht. Gleich. « Er unterbrach das Gespräch, da Jim mit seiner Peitsche wedelte und ihn zur Eile antrieb.
Die beiden anderen Gefangenen waren ihnen gefolgt. Mit klopfendem Herzen stand Alexander auf dem Podest. Was würde nun geschehen? Was hatte Jim mit ihnen vor? Vor ihrer Flucht hatten sie keinen Gedanken daran verschwendet, wie andere Städte ihren Besuch wohl aufnehmen würden.
Nach und nach versammelten sich Menschen vor dem Podest. Immer schneller wuchs die Menge an, bis Alexander über zweihundert Zuschauer zählte.
Schließlich trat Jim nach vorn an den Rand der kleinen Bühne. Er streckte die Arme in die Luft und das Gemurmel auf dem Platz erstarb.
»Liebe Mitbürger, es ist wieder so weit! Ich habe neue Ware für euch! Lasst uns doch mal sehen, was sie euch wert ist!« Applaus brandete auf. Jim nickte begeistert und die vielen Ringe an seinem rechten Ohr klimperten leise. Er griff nach Nics Hand und zog sie zu sich heran. »Als Erstes möchte ich euch diese Schönheit hier präsentieren. Ein wenig schmutzig, ja, aber mit viel Leidenschaft! Na, wer bietet 10 Gramm?« Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Erste Hände hoben sich.
»20!«
»30!«
Alexanders Gedanken rasten. Aus irgendeinem Grund wollte Jim sie verkaufen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er musste es beenden oder zumindest unterbrechen. Nach einem kurzen Zögern trat er vor und stellte sich direkt neben den Verkäufer.
»Was soll der Scheiß?«, zischte der ihm aus dem Mundwinkel zu. »Verzieh dich wieder nach hinten, du bist später dran!« Er gab ihm einen leichten Stoß vor die Brust.
Alexander ignorierte Jim und wandte sich direkt an das Publikum zu seinen Füßen.
»Hallo, ich bin Alexander, das ist Nic und das ist Oliver. Wir sind erst heute in eurer schönen Stadt gelandet, nicht, weil wir euch schaden wollen, sondern weil wir unsere Heimat Biota verlassen mussten.« Erste Rufe ertönten. Alexander konnte zwar nicht verstehen, was die Leute riefen, aber der Inhalt war ganz klar gegen ihn gerichtet. Er schluckte und sprach dann hastig weiter: »In Biota war Nic eine Biologin, ich war ein Hüter und wir waren damit beauftragt, einen Mord aufzuklären. Das ist uns auch gelungen, aber leider haben die Ermittlungen Geheimnisse zutage gefördert, die die Leiter unserer Stadt schützen wollten. Wir sind geflohen, bevor sie uns töten konnten.«
Er schwieg. Die Rufe in der Menge waren verstummt, jetzt war lediglich ein Murmeln zu hören. Die Leute sprachen mit ihren Nachbarn und blickten dabei immer wieder zu ihm hinauf. Er konnte nicht erkennen, ob seine Rede ihre Wirkung erzielte, doch er fuhr fort: »Wir haben nur nach einem Ort gesucht, an dem wir uns ausruhen können, und sind dabei in eurer Stadt gelandet.« Ein wenig außer Atem blickte er in die Menge.
Einzelne Einwohner erwiderten seinen Blick und nickten ihm sogar zu. Unsicher nickte er zurück. Ein unerwartet harter Schlag gegen seine Rippen ließ ihn zurücktaumeln. Der Händler hatte ihn mit ausgestrecktem Arm fortgestoßen und stellte sich nun direkt vor ihn.
»Liebe Mitbürger, der Zwischenfall tut mir sehr leid, wir werden natürlich sofort mit der Versteigerung fortfahren.« Er zog Nic zu sich heran und drückte sie an seine Seite, sodass sie sich kaum noch rühren konnte. »Also, wer bietet mehr als 30?«
»Ihr solltet uns erst anhören«, rief nun Nic, während sie sich in Jims Arm wand. »Wir sind als Gäste nach Narau gekommen, als Besucher.« Sie hielt kurz inne und ließ ihren Blick über die Menge gleiten. »Behandelt man so in Narau vielleicht seine Gäste?«
Alexander sah an Jim vorbei in die Menge. Viele der Menschen wirkten unsicher, sahen zu Boden und warfen einander verwirrte Blicke zu.
»Kommt schon, Leute, die hier hat wirklich beste Qualität!« Verzweiflung hatte sich in Jims Stimme geschlichen. »Vielleicht legst du mal die hier ab.« Der Händler deutete auf Nics zerrissene Bluse.
Читать дальше