Jesse schüttelte den Kopf. »Ist mir egal, was mit ihm ist. Das soll jemand anderes entscheiden. Wir bringen euch in die Stadt. Solange ihr noch lebt, krieg ich Geld für euch. Also los.« Wieder machte seine Waffe eine wippende Bewegung, und nun gingen gleich drei der Männer auf Nic los, während McCarty sie mit hämischen Kommentaren anfeuerte. Es dauerte nicht lange und auch Nic und Oliver waren gefesselt und hingen an Leinen, die die Männer fest in der Hand hielten.
»Na endlich. Dann los.«
»Was is’n das eigentlich für ein Ding?«, nuschelte McCarty, als Jesse sich schon umgedreht hatte, und deutete auf den Golem.
»Das ist –«, setzte Alexander an, doch wurde sogleich rüde von Jesse unterbrochen.
»Ist doch völlig egal, was das ist. Darum können wir uns später kümmern, kann man sicher einschmelzen. Vielleicht zahlt Wesson uns dafür ja was.«
Noch immer fiel es Alexander schwer, aus dem schleppenden Tonfall der Männer die einzelnen Wörter herauszuhören, aber er hatte langsam das Gefühl, sich daran zu gewöhnen.
»Was haben Sie jetzt genau mit uns vor?«, ertönte Nics Stimme hinter seinem Rücken.
»He, Jesse, die hier will genauer wissen, was wir mit ihr vorhab’n. Wills’ du es ihr sag’n?« Lachend stieß McCarty Alexander in die Seite.
»Das sieht sie noch früh genug«, erwiderte Jesse gelangweilt.
»Beweg dich mal lieber. Will wieder zurück in die Stadt, die geben sicher ein hübsches Sümmchen.«
Redeten die etwa davon, sie zu verkaufen? Mit weit aufgerissenen Augen sah Alexander von einem zum anderen. »Moment mal, Sie können doch nicht …« Keiner der Männer hörte ihm zu.
»Schau doch mal, wie hübsch die hier ist. Na ja, wieder sein wird. Die braucht erstma’ ein ordentliches Bad.«
Jesse ging gemächlich auf Nic zu und packte sie am Kinn. Wütend starrte sie ihm ins Gesicht und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, doch er war zu fest.
»Oh ja«, sagte Jesse langsam. »Die hat wirklich richtig Feuer, und das will hier schon was heißen.« Er lachte lauthals über seinen eigenen Witz, und nach wenigen Augenblicken stimmten auch die anderen Männer mit ein.
»Bin sicher, der alte Grady würde sie gern in die Finger bekommen, meinst du nich’ auch, Johnson?« Beifall heischend blickte McCarty zu dem Mann hinüber, der Nic am Seil hinter sich herführte.
Der zuckte nur mit den Schultern. »Kann schon sein«, murmelte er leise.
»So, dann lasst uns mal einen Zahn zulegen, ich will noch in den ›Old Hat‹«, verkündete Jesse und erhöhte sein Tempo.
»Willste deine hart verdiente Kohle gleich wie’er verlier’n?« McCarty betrachtete ihn feixend.
Jesse sah zurück, rollte nur mit den Augen und winkte den anderen über die Schulter zu, damit diese ihm folgten.
Alexander begriff nicht, worüber die Männer sprachen. Es lag nicht nur an der Art und Weise, wie sie alles aussprachen, es lag auch an den Wörtern, die sie benutzten.
»Deine Spielerei wird dich noch mal in die Hölle bringen!« Brüllendes Lachen war der Dank für diese Bemerkung.
»Da bin ich doch schon längst, sonst wäre ich nicht mit eurer Gesellschaft gestraft worden«, antwortete Jesse ebenfalls grinsend.
Alexander folgte ihrem Wortwechsel ratlos. Die »Hölle«? Was mochte das sein? Eine Art Gefängnis vielleicht?
»Also, das hier ist Narau, habt ihr gesagt?« Alexander deutete mit seinen zusammengebundenen Händen in die Richtung, in die sie gingen.
»Ja, Trottel.« McCarty gab ihm einen Stoß in den Rücken und er stolperte vorwärts.
Narau … auf den Karten, die sie zur Navigation benutzt hatten, war kein Name eingezeichnet gewesen. Der einzige Hinweis auf einen Vulkan war ein unförmiger kleiner Berg gewesen, der unter den Inseln von Hawaii eingezeichnet war. Sie hatten ihn aus purer Verzweiflung angesteuert, als ihnen die Möglichkeiten ausgegangen waren, wo die in einem Vulkan verborgene Stadt noch liegen konnte. Alle anderen Vulkane waren unbewohnt und lebensgefährlich gewesen, einige wenige sogar unauffindbar.
Überhaupt hatten sie nur von dieser Stadt erfahren, weil sie in Biota – verbotenerweise – mit den Dunklen gesprochen hatten, Menschen, deren Gedächtnis im Gegensatz zu ihrem noch intakt war und die von den Oberen deshalb eingesperrt worden waren. Sie hatten sich an eine andere bewohnte Stadt als Biota erinnern können und einen Vulkan im Pazifik als einzigen Hinweis genannt.
Zu gerne würde er sich auch an etwas erinnern, an etwas außerhalb von Biota. Doch bei ihm hatte die Anpassung an die Stadt funktioniert, sein Gedächtnis war von den Wissenschaftlern schon vor Jahren gelöscht und manipuliert worden. Alles, was er jemals außerhalb von Biota gesehen hatte, war unwiederbringlich fort.
In Gedanken versunken stolperte Alexander erneut. Auf dem groben Weg fiel er hart auf die Knie und rang nach Luft. Er war so müde.
Ungeduldig zerrte McCarty an dem Seil, das er um Alexanders Hände geschlungen hatte.
»Mach schon. Keine Lust, hier hint’n festzusitz’n, nur weil du nich’ richtig lauf’n kanns’!«
Mühsam rappelte Alexander sich wieder auf. Seine Knie schmerzten, doch noch schlimmer war der Durst, der ihn seit Tagen quälte. Zwar hatten sie im Golem Süßwasser aus dem Meerwasser gewinnen können, das sie von allen Seiten umgab, doch während der letzten Tage ihrer Reise hatte der Mechanismus nach und nach den Geist aufgegeben. Wenige Stunden, bevor sie Narau erreicht hatten, war das Wasser genauso salzig gewesen, als hätten sie es direkt aus dem Ozean getrunken. Alexander verdrängte den Gedanken an ein kühles Getränk. Er hatte nicht vor, diese Männer um Wasser anzubetteln. Wenigstens hatten sie die Stadt erreicht, die Dunklen hatten also nicht gelogen. Sie existierte tatsächlich!
Nur den Empfang hatte er sich anders vorgestellt.
Gequält verzog Alexander das Gesicht, als der Mann vor ihm am Seil riss und sich die groben Fasern schmerzhaft in seine Handgelenke gruben.
»Ich mache, so schnell ich kann«, krächzte er und eilte McCarty hinterher.
Von Oliver und Nic war den ganzen Weg über kaum etwas zu hören, nur ab und zu ein Stöhnen von Oliver und gemurmelte Worte von Nic. Das änderte sich jedoch, als sie den Gipfel des kleinen Hügels erreichten, der, wie sich jetzt herausstellte, das Innere des Vulkans war, das zu den Seiten sanft anstieg.
»Unglaublich«, flüsterte Nic hinter ihm und auch von Oliver kamen bewundernde Laute. Gesprochen hatte der Junge seit zwei Tagen nicht mehr. Die Schussverletzung an seiner Schulter verheilte kaum und es ging ihm zusehends schlechter. Von Zeit zu Zeit hatten Alexander Gewissensbisse geplagt. Vielleicht wäre es Oliver besser ergangen, wenn sie ihn in Biota zurückgelassen hätten. Doch diese Gedanken hatte er immer schnell wieder verdrängt. Hätten sie ihn bei den Dunklen gelassen, wäre er vermutlich von ihnen ermordet worden. Dann war eine Schusswunde auf der Flucht aus der Stadt doch die bessere Wahl.
Hinter dem vermeintlichen Hügel war der Rest von Narau sichtbar geworden. Eine Stadt inmitten eines Vulkankraters. Die Wände des Kraters ragten so hoch in die Luft, dass sie sich in dem Dunst verloren, der wie ein Schleier über der Stadt hing. Sie waren schwarz und zerklüftet, spitz und massiv. Vor ihrer kleinen Gruppe erstreckte sich ein langer Weg aus schwarzen Steinquadern, der zu der eigentlichen Stadt aus unwirklich schwarzen und rotbraunen Häusern führte. Obwohl die Sonne schien, konnte sie den seltsamen Nebel, der die Stadt einhüllte, kaum durchdringen. Wie scheußlich es hier roch! Nach faulen Eiern und Kohlefeuern ohne Lüftung. Krampfhaft holte Alexander Luft, sein Hals kratzte und seine Augen tränten, doch er sah sich weiter um.
Auf der linken Seite der Stadt erhob sich eine etwa fünfzig Meter hohe Konstruktion aus Metall, von der aus ein breiter Steg in der Höhe einmal quer über den Krater führte.
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