»Hey, Jim!«, begrüßte Jesse ihn.
Jim nickte nur und betrachtete die Gruppe mit hochgezogenen Augenbrauen. »Was habt ihr denn da Schönes für mich?«, fragte er mit monotoner Stimme. Trotz seiner Frage schien es ihn nicht sonderlich zu interessieren.
»Neue Ware.« Jesse deutete auf Nic, Oliver und Alexander.
Das also waren sie jetzt? Nur eine Ware?
»Neu sehen die nicht gerade aus. Und auch nicht, als könnten die arbeiten. Dafür kriege ich sicher nicht viel.« Abschätzig glitt sein Blick über Alexander und dann weiter zu Oliver, der gekrümmt dastand und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
»Schau’ dir doch ma’ die hier an.« McCarty deutete auf Nic.
»Wenn die nich’ viel einbringt, dann weiß ich auch nich’. Allein die Haare!« Grob fuhr er Nic durch ihre langen dunkelblonden Locken. Wütend schüttelte sie den Kopf, doch McCarty schnalzte nur mit der Zunge und tätschelte ihre Wange.
»Und Temperament hat sie auch noch.«
Jim wiegte seinen Kopf hin und her. »Ich weiß nicht …«
Jesse tippte mit den Stiefelspitzen auf den Steinboden. »Ja oder nein? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit für deine Spielchen.« Fest blickte er Jim in die Augen. Als Jim nichts sagte, zuckte er nach wenigen Sekunden mit den Schultern und wandte sich zum Gehen.
»Abmarsch, Jungs!« Auch die anderen Männer drehten sich um und zogen die Gefangenen an den Seilen hinter sich her.
»In Ordnung, alles klar!«, rief ihnen Jim genervt hinterher.
»Du hast gewonnen, verdammter Hund!«
»Wie viel?«, knurrte Jesse.
»20 Gramm. Mehr ist aber nicht drin!«
»25 und wir sind uns einig.«
»Du ruinierst mir noch mein Geschäft.« Jim seufzte demonstrativ. »25 Gramm, alles klar.«
Er kramte in einer kleinen Ledertasche an seinem Gürtel, dabei schlugen die zwei Waffen daran klirrend aneinander. Schließlich zog er fünf kleine goldene Plättchen aus dem Beutel und drückte sie Jesse in die Hand. »Da! Und jetzt verzieht euch von hier!«
»Nur zu gerne«, erwiderte Jesse und gab den anderen das Zeichen zum Aufbruch. Sie übergaben Jim die Seilenden und verschwanden in der nächsten Gasse. Dumpf tönte McCartys leiser werdende Stimme herüber. »Jetz’ gib’ mir schon mein’n Anteil!«
Unsicher sah Alexander Jim an. Der grinste nur und zog an ihren Seilen.
»Los, kommt mit!« Unsanft riss er an den Fesseln, doch sie bewegten sich nicht von der Stelle. Was geschah nun mit ihnen? »Ach, ihr sprecht unsere Sprache wieder nicht, immer das Gleiche …«
»Nein«, sagte Alexander. »Aber wir bewegen uns erst, wenn Sie ihm helfen. Er braucht einen Arzt.« Er deutete auf Oliver.
»Helfen?« Jim lachte schallend. »Ich werd’ dir gleich helfen. Du bewegst dich jetzt.«
Doch Alexander schüttelte den Kopf. Nic trat an seine Seite.
»Nein«, sagte auch sie. »Er wird nicht mehr lange durchhalten.« Sie griff nach Olivers Hand.
»Mir völlig egal. Ihr geht da jetzt endlich rein.« Er deutete auf ein kleines Gebäude mit vergitterten Fenstern.
»Das werden wir nicht tun«, erklärte Nic mit fester Stimme und der steifen Haltung der Botania, die sie in Biota gewesen war.
Schimpfend wandte der Mann sich ab und bückte sich. Plötzlich wirbelte er ruckartig wieder herum. Er hatte etwas in der Hand, das aussah wie ein Stock mit Fransen daran. Klatschend landeten die Fransen auf Alexanders nackten Armen und er schrie auf. Rote Striemen bildeten sich auf seiner Haut.
»Willst du noch mehr?«, knurrte Jim mit einem fiesen Grinsen. Alexander schnappte vor Schmerz nach Luft und schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht auf einen Kampf mit diesem Mann ankommen lassen. Er hätte keine Chance. »Und du?« Jim deutete mit dem Stock in seiner Hand auf Nic. Auch sie schüttelte den Kopf, wenn auch mit einem mörderischen Gesichtsausdruck. »Na, geht doch.« Jim zog an ihren Fesseln und führte sie zu dem Gebäude, in dem bereits zwei weitere Personen saßen. Ebenso wie die Menschen im ersten Häuserring hatten sie hohe Wangenknochen und dunkle Haut. Mit verängstigtem Blick sahen sie die Neuankömmlinge an. Alexander versuchte es mit einem Lächeln, doch er war so ausgelaugt und dehydriert, dass es ihm wohl nicht richtig gelang, denn die beiden anderen Gefangenen rutschten auf der schmalen Bank noch ein Stück weiter von ihm fort. Seufzend ließ Alexander sich an der Wand herabrutschen und setzte sich auf den Boden. Nic jedoch drehte sich um und versetzte Jim einen Stoß. »Lass uns hier raus! Du kannst uns nicht einfach gefangen halten!«
Sichtlich überrascht stolperte Jim einen Schritt zurück, fing sich aber gleich wieder und grinste Nic an.
»Schön und kampflustig, das wird meine Kunden sicher freuen.« Er machte einen schnellen Schritt auf Nic zu und griff ihr mit einer Hand an den Hals. Gurgelnd versuchte sie, sich aus dem Griff zu befreien, doch Jim drückte sie gegen die Wand.
»Mach’ das nicht noch einmal, hast du mich verstanden?« Er stieß Nic mit Wucht zurück und verließ den Raum. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
»Au!« Mit schmerzverzerrter Miene strich Nic sich über den Hinterkopf. Als sie die Hand wieder löste, waren ihre Finger blutverschmiert. »Er hat dich verletzt!« Alexander sprang auf, um ihr zu helfen, doch sie winkte nur ab.
»Schon gut, das ist nur eine winzige Platzwunde, nichts Schlimmes. Ich bin ja selber schuld. Was habe ich auch erwartet? Dass er uns einfach wieder gehen lässt?« Sie lachte bitter.
»Ich bin nichts hier, Alex. Ich bin keine Botania mehr! Und ohne meinen Titel … Wer bin ich da schon?«
Betroffen senkte Alexander seinen Blick. Natürlich hatte sie recht. In Biota war sie eine Biologin gewesen, eine der Leiterinnen der Stadt, die Leute hatten Respekt vor ihr gehabt, mehr noch: Sie hatten sie verehrt. Ihrem Status war es überhaupt erst zu verdanken gewesen, dass sie die Mordfälle in ihrer Heimatstadt hatten aufklären können.
Doch sie würden einen Weg hier raus finden, dazu brauchten sie keinen Titel!
Ein Stöhnen unterbrach seine Gedanken. Oliver war auf dem Boden zusammengesunken. Frisches Blut sickerte unter der Hand hervor, die er auf die Wunde an seiner Schulter gepresst hatte. Sofort waren Alexander und Nic an seiner Seite.
»Oliver?« Besorgt strich Nic ihm über die Stirn, auf der kalter Schweiß stand. Er reagierte nicht. Alexander hockte sich neben ihn, doch wagte nicht, ihn zu berühren.
»Was ist los?«, flüsterte er leise.
»Er ist ohnmächtig. Ich vermute, die Anstrengung heute und die Wunde waren einfach zu viel. Außerdem glaube ich, dass die Wunde ihn langsam vergiftet, sie heilt einfach nicht und die Bakterien werden sicher bald zu einer Blutvergiftung führen.«
Hilflos sah Nic ihn an. Alexander wusste, dass sie ohne Hilfsmittel auch nichts tun konnte, trotzdem war er ein klein wenig enttäuscht. Sie war immer diejenige gewesen, die gewusst hatte, was zu tun war. Erst jetzt merkte er, wie sehr er sich auf sie verlassen hatte.
Er bemühte sich, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Langsam fuhr er Oliver durchs Haar. »Wir kommen hier ganz sicher wieder raus, ich lasse mir was einfallen.« Er hatte Oliver schließlich nicht aus seinem Gefängnis unter Biota gerettet, damit er nun hier in Narau starb. Gemeinsam legten sie Oliver flach auf den Boden und Nic bettete seinen Kopf auf ihren Schoß.
Alexander lehnte sich mit dem Rücken gegen die Steinmauer. Sie war warm, ebenso wie der Boden. Vorsichtig strich er mit der Hand darüber. Der Stein fühlte sich unter seinen Fingern scharf und grobkörnig an. Er konnte sich nicht daran erinnern, dieses Material jemals in Biota gesehen zu haben. Ganz leicht kratzte er mit seinem Fingernagel darüber und kleine Brocken brachen ab.
Einige Momente lang beobachtete er Nic, die Oliver hin und wieder die Hand auf die Stirn legte. Danach hob sie das Tuch, das seine Schulter bedeckte, hoch und betrachtete die Wunde, deren Ränder so dunkelrot waren, dass sie fast schwarz wirkte. Eine Hand auf seinem Kopf, die andere an ihrem Ärmel, riss sie den Stoff entzwei und tauschte das Tuch mit dem Teil ihres Ärmels.
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