Auch Finnern macht dies deutlich: „Für die narratologische Untersuchung einer Erzählung ist es unwichtig, wie stark sich die Erzählung an existierende Personen […] oder historische Ereignisse anlehnt.”8 2.3.1 Vorgehensweisen der Figurenanalyse in verschiedenen Bereichen In der aktuellen Forschung zur Figurenanalyse existieren verschiedene Ansätze und Kategorien, nach denen eine Figur im Erzähltext analysiert wird. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Methoden gegeben. Dabei werden zunächst einige grundlegende theoretische Modelle aus dem Bereich der Literatur- und Filmwissenschaft vorgestellt; tatsächlich handelt es sich ja bei der Figurenanalyse um ein ursprünglich literaturwissenschaftliches Konzept. Darauf folgt die Behandlung einiger eher praktisch-methodischer Arbeiten, die in die Figurenanalyse bei biblischen Erzähltexten einführen möchten. Schließlich werden in einem weiteren Schritt konkrete Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte beleuchtet. Alle Ergebnisse werden in einem kurzen Fazit gebündelt und hinsichtlich einer Entwicklungslinie mit bestimmten Schwerpunkten ausgewertet. Zuletzt wird in kritischer Auseinandersetzung mit den zuvor dargestellten Figurenanalysemethoden das in dieser Arbeit verwendete Modell entwickelt. 2.3.1.1 Figurenanalyse in der Literatur- und Filmwissenschaft Forster1unterscheidet in seinem erstmals 1927 erschienenen Werk „Aspects of the Novel“ zwischen rundenund flachenCharakteren. Unter einem flachenCharakter versteht er eine Figur, die lediglich um eine einzelne Idee oder Eigenschaft herum konstruiert ist, keine Wandlung vollzieht und damit eindimensional bleibt.2 In Bezug auf den Leser besitzt ein flacherCharakter seiner Ansicht nach zwei Merkmale: Er ist zum einen für den Leser leicht zu erkennen, wann immer er im Text auftaucht. Zum anderen ist es für den Leser auch nach der Lektüre nicht schwer, sich an ihn zu erinnern.3 Zu rundenCharakteren werden Figuren „when there is more than one factor in them.“4 Ein runderCharakter ist differenzierter gestaltet, vollzieht möglicherweise eine Wandlung oder Entwicklung und besitzt damit eine gewisse Tiefenschärfe.5 Mit seiner generellen Kategorisierung von Figuren hat Forster in Bezug auf die Analyse von Figuren einen wichtigen Grundstein gelegt, auf den im Verlauf der Geschichte vielfach aufgebaut worden ist und auf den sich auch heute noch viele Forschungsbeiträge zu Figurenanalysen beziehen. Der russische Formalist Propp6definiert in seiner Untersuchung russischer Märchen die Figuren fast ausschließlich darüber, welche Positionen sie in der Handlung einnehmen. Dementsprechend unterscheidet er zwischen acht verschiedenen Figuren7, die immer wieder Bestandteil russischer Märchen sind: der Bösewichtals Gegenspieler des Helden; der Spender, der dem Helden etwas Bestimmtes gibt, wodurch dieser seine Mission erfüllen kann; der Helfer, der dem Helden beisteht; die Prinzessin, die den Helden in den meisten Fällen schwierige Aufgaben stellt; der Sender, der den Held auf seine Mission schickt; der Heldselbst und der falsche Held.8 Propp fokussiert damit die Figuren auf ihre Rolle und Funktion innerhalb einer Handlung. Harvey9, der sich ausführlich mit Charakteren in Erzählungen beschäftigt, teilt Figuren in einer Handlung grundsätzlich in vier unterschiedliche Figurentypen ein:10 Der Protagonist, der eindeutig im Vordergrund steht und dessen Geschichte am ausführlichsten präsentiert wird; die Hintergrundfiguren, die lediglich Elemente des Handlungsmechanismus darstellen; die Ficelle,eine Figur, die stärker als die Hintergrundfiguren gezeichnet ist und die eine bestimmte Rolle und Funktion einnimmt; der Card, eine Figur, die den Text über unverändert bleibt und die – anders als die Ficelle– dabei keine bestimmte Funktion erfüllt. Harvey ordnet damit die Figuren innerhalb einer Erzählung bestimmten Positionen zu, die etwas über die Figuren selbst, aber auch über das Verhältnis einer Figur zu anderen Figuren aussagen können. Ähnlich wie Propp versucht auch Greimas11in Bezug auf Figuren bestimmte Tiefenstrukturen herauszuarbeiten.12 Er entwickelt zur Beschreibung von elementaren Handlungspositionen ein Aktantenmodell. Greimas reduziert dabei im Gegensatz zu Propp, der von sieben Figurentypen ausgeht, die Anzahl der Aktantenauf drei Handlungs-Paare: Subjekt – Objekt, Sender – Empfängerund Helfer – Opponent.13 Eine Figur kann dabei zugleich mehrere Aktantenrollen einnehmen, genau wie eine Aktantenrolle auch von mehreren Figuren, einem Kollektiv oder von einer Naturkraft ausgefüllt werden kann. Greimas unterscheidet grundsätzlich zwischen Akteurenund Aktanten; dabei sind die Akteurekonkrete Erscheinungsformen von Aktanten.14 Mit Hilfe dieses Aktantenmodellslassen sich die Beziehungen der handelnden Personen innerhalb einer Erzählung genauer beschreiben und analysieren. In der Forschung hat das Aktantenmodell rege Beachtung gefunden und dient auch in heutigen Figurenanalysen oftmals noch als Basis, um etwas über die Funktion einer Figur innerhalb der Handlung auszusagen. Der Strukturalist Barthes15beschreibt die Entstehung einer Figur als Zusammensetzung verschiedener Sinneinheiten (Seme), die um einen Eigennamen herum gruppiert und mit diesem verknüpft sind.16 Um einen Text zu analysieren nennt Barthes insgesamt fünf Stimmen, die alle zugleich aus dem Text sprechen: Die Stimme der Empirie, die Stimme der Wissenschaft(Kultur), die Stimme der Hermeneutik, die Stimme der Symboleund die Stimme der Personen(Seme), von denen letztere für die Figurenanalyse von größter Bedeutung ist.17 Hinsichtlich der Stimme der Personenversteht Barthes Charaktere grundsätzlich als eine Zusammensetzung von verschiedenen Adjektiven, durch die eine Figur mit bestimmten (Charakter-)Eigenschaften ausgezeichnet wird.18 Mit seinem Verständnis einer Figur als Zusammensetzung verschiedener Eigenschaften legt Barthes gewissermaßen den Grundstein, auf den Chatman in seinen Untersuchungen aufbaut. Im Gegensatz zu Propp, Harvey und Greimas beschränkt Barthes die Figur nicht mehr nur auf ihre Rolle innerhalb einer Handlung, sondern widmet sich stärker der Figur selbst und ihrem Charakter. Chatman19der, wie im Vorherigen dargestellt, eine Erzählung in die beiden Ebenen storyund discourseeinteilt, verhandelt den Bereich der Figurenanalyse und Charakterisierung unter dem Aspekt der story.20 Er vertritt die Ansicht, eine Theorie über Figuren „should preserve openness and treat characters as autonomous beings, not as mere plot functions.“21 Dabei ist es letztlich der Leser, der die Figur aus dem Text rekonstruiert.22 Einer Figur werden im Text verschiedene Eigenschaften, Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, die Chatman als traitsbezeichnet, zugeschrieben.23 Solche traitssind z.B. Zuschreibungen von Adjektiven wie „einsam“, „intelligent“, „ängstlich“, etc., die vom Leser aufgrund seiner (kulturell bedingten) Kenntnisse der „trait-code[s]“24, entschlüsselt werden. Diese traitssind dabei nach Chatman nicht unbedingt an den Handlungsverlauf gebunden, sondern existieren in vielen Fällen zeitlos und durch die gesamte Erzählung hindurch.25 Genau wie Barthes löst Chatman die Analyse von Figuren von ihrer Gebundenheit an die Handlung und eröffnet durch seine Untersuchung der traitseiner Figur einen neuen und wichtigen Bereich der Figurenanalyse. Bal26, die die drei Ebenen Text, Storyund Fabulain einer Erzählung unterscheidet, ordnet die Figurenanalyse sowohl der Story(der Darstellung) als auch der Fabula(der Handlung) zu.27 Auf der Ebene der Story bezeichnet sie Figuren als „characters“28 und definiert sie als „anthropomorphic figures provided with specifying features the narrator tells us about.“29 Charaktere setzen sich demnach auf der Ebene der Storyaus unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften zusammen, die sie individuell und einzigartig machen.
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