Johanna Vocht / David Klein
(Des)escribir la Modernidad – Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ePub-ISBN 978-3-8233-0121-9
Das Werk des uruguayischen Autors Juan Carlos Onetti wurde von der Forschung schon mit vielen simplifizierenden Etikettierungen versehen: Allen voran stehen die Zuschreibungen 'düster', 'hermetisch' oder 'existentialistisch'. Ohne den zugehörigen Analysen ihre Plausibilität absprechen zu wollen, möchten wir Onettis Erzählungen in diesem Sammelband jedoch gerade nicht semantisch auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, sondern vielmehr die hermeneutische Offenheit seiner Prosa fokussieren. Ein Großteil der hier versammelten Beiträge gründet auf Roberto Ferros monographischer Lesart1, die alle literarischen Arbeiten Onettis als einen großen Text, als offenes Kunstwerk versteht und damit auch eine Vielzahl an selbstreferentiellen Bezügen offen zu legen vermag. Die vorliegenden Aufsätze sind das Ergebnis eines diskussionsreichen Symposiums2, das im Herbst 2015 in München stattfand, um Onettis Werk vor der Folie aktueller medien-, gender- und raumtheoretischer Diskurse zu beleuchten. Implizit schwang dabei immer auch die Frage mit, was Onettis Texte bis heute aktuell erscheinen lässt und warum deren wissenschaftliche Rezeption an deutschsprachigen Universitäten trotz unbestrittener ästhetischer Qualität so zurückhaltend ist. Denn bis dato existierten in der deutschsprachigen Hispanistik kaum Untersuchungen zu Onettis umfassendem Œuvre. Mit dem Symposium sollte sowohl die wissenschaftliche Vernetzung bezüglich der Onetti-Forschung gefördert als auch die ästhetische Bedeutung seiner Texte für die Moderne aufgezeigt werden.
Ganz im Sinne von Mario Vargas Llosa, demgemäß Onetti als einer der ersten Vertreter der lateinamerikanischen Moderne zu betrachten sei, begreifen wir Onettis Prosa als kontinuierliche Anwendung, Abwandlung und Erprobung moderner Techniken der Fiktionsherstellung. Wenn Onetti schreibt, so die These, dann betreibt er mitunter das, was einst zu Beginn der 1960er Jahre den Gegenstand einer Diskussionsrunde zwischen Literaten, Intellektuellen und Künstlern bildete: Ausgangspunkt der Debatte waren die fragmentarischen Hinterlassenschaften eines nicht näher bekannten Schriftstellers – dem Klang seines Namens nach musste er Italiener gewesen sein. Aus den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen war das Anliegen herauszulesen, zu einem neuen Verständnis literarischer und künstlerischer Produktion zu gelangen. Hintergrund und Anstoß gaben neueste naturwissenschaftliche Entdeckungen im Bereich der Chemie. So war es einem schwedischen Chemiker gelungen, psychische Vorgänge in direkter Relation auf physiologische Vorgänge zu reduzieren. Chemische Prozesse, so die bahnbrechende Schlussfolgerung des Wissenschaftlers, waren nun endlich in gedankliche Prozesse übersetzbar geworden. DNS und die nach ihrem Code sich 'herausschälenden' Proteine zeigten sich als unendlich komplexer, aber doch lesbarer Text menschlicher Gedanken. Geist und Körper waren somit keine getrennten Bereiche mehr, sondern ihrerseits nur mehr zwei Seiten ein und derselben Sache 'Mensch'. Fortan sollten sich also dessen Gedanken zu den Proteinen, die sie tragen, so verhalten, wie die Vorderseite einer Münze zu ihrer Rückseite: unterschiedlich anzusehen und doch untrennbar verbunden. Für den Schriftsteller, so wurde im weiteren Verlauf der besagten Diskussionsrunde deutlich, hatte dies weitreichende Konsequenzen. Denn wenn ein Mensch sich anschickt, gedanklich ein Bild von sich zu entwerfen, sich in die Zukunft oder die Vergangenheit zu projizieren, so entspringt dieser projektierte Gedanke nur aus dem, was zu dem Zeitpunkt, in dem er gedacht wird, bereits vorhanden ist: eine bestimmte Konfiguration von DNS und Proteinen, die den Gedanken davon, was sein soll oder was war, materiell tragen und ermöglichen. Jeder Versuch, die ersehnte oder erinnerte Vorstellung zu realisieren, musste folglich an ihren Ausgangspunkt, den gegenwärtigen Initialgedanken, zurückkommen. Was der Mensch sein wollte, das war er bereits. Und was er war, das wollte er sein.
Während des weiteren Verlaufs der Diskussion kreiste das gemeinsame Interesse der Teilnehmenden sodann um die Frage, wie mit einer solchen Prämisse umzugehen sei, und ob der besagte Schriftsteller hierzu einen Vorschlag gemacht habe, denn es sei ja nun, so ein weiterer Einwurf, weder möglich, organische Prozesse unabhängig von Gedanken zu vollziehen, noch Gedanken von organischen Prozessen zu emanzipieren. Leben und Menschsein heiße im Körper und in den Gedanken gleichermaßen zu sein. Auf eine bestimmte Weise zu denken, sei demnach stets gleichbedeutend mit einer bestimmten Art und Weise in die Welt gestellt zu sein, mit ihr in Beziehung zu treten, über Möglichkeiten und körperliche Werkzeuge zu verfügen, sich diese Welt anzueignen. Folglich bedeute Sprache, als Ausdruck (oder DNS) der Gedanken, stets das zu Hause sein in einer bestimmten Realität. Jeder Versuch, Gedanken sprachlich zu äußern oder gar schriftlich zu fixieren, impliziere letztlich – ganz im Sinne Wittgensteins – einen Verbleib im Horizont der durch diese Sprache vorgegebenen Möglichkeiten. Dies gelte für natürliche wie formale Sprachen, wie auch für Vorstellungen und Konzepte von Realität gleichermaßen. Da es aber ohne Sprache und deren schriftliche Fixierung kein literarisches Kunstwerk mehr geben kann, sei es Aufgabe 'guter' Literatur, eine gegebene Sprache in all ihren Facetten, Möglichkeiten und Spielarten so lange zu durchlaufen, zu durchschreiten, sie zu verbrauchen, sie zu zerschreiben , bis sich letztlich das realisiert, was von Anfang an da war, bis die Worte und Dinge zu dem werden, was sie immer schon waren. Erst auf diese Weise werde nicht eine parzellierte und an die jeweilige Sprache gebundene Realität, sondern die Realität jenseits der Sprache in der Sprache erahnbar.
Nach Ansicht des besagten Schriftstellers habe Literatur somit die Aufgabe, Sprache zu verbrauchen. Dies schließt ihren 'Gebrauch' logisch mit ein, bedeutet aber zugleich, dass sich im Ver- und Gebrauch, im Zuge jenes Zerschreibens die Grenzen des Machbaren abzeichnen, die gleichwohl die Grenzen der Sprache sind. Wenn die literarische Komposition ihre äußersten Grenzen ausgelotet habe, dann öffne sich der Bereich des Elementaren. Jedwede Behauptungen, jedwede Gegenbehauptungen, jede Reklamation von Wahrheit, jede Unterstellung von Lüge würden auf diesem Wege durchschaubar – durchschaubar hinsichtlich ihrer Verwiesenheit in die jeweiligen sprachlichen Grenzen.
War das Symposion, auf das dieser Sammelband zu Onetti zurückgeht real, so hat die Diskussionsrunde um den verstorbenen Schriftsteller – er hieß Morelli – nicht stattgefunden und stattgefunden. Sie ist fiktiv und dem 1963 erschienenen Roman Rayuela aus der Feder von Onettis Zeitgenossen Julio Cortázar entlehnt. Die darin angestellten Schlussfolgerungen sollen zu einem besseren Verständnis von Onettis literarischem Schaffen beitragen. Denn Onetti betreibt seinerseits eine ebenso pointierte Variante des Cortázar'schen desescribir , eines potenziell endlosen und konzeptionell unabschließbaren Fortschreibens, das erst dann zu einem Ende gelangt, wenn alle sprachlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Während jedoch Cortázar seiner Rayuela einen Kommentar und eine Gebrauchsanweisung beilegt, so findet sich bei Onetti ein vergleichbares Projekt des Zerschreibens zwar metafiktional reflektiert, bleibt dabei jedoch auf den reinen Selbstzweck des Erzählens ausgerichtet. So schreibt etwa Díaz Grey, der Chronist der traurigen Lebensgeschichte einer namenlosen Frau, nachdem er mehrere Versionen ihres Lebens gehört hat:
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