2. Sprachregimes und Strategien des Konfliktmanagements
Migration geht geradezu zwangsläufig mit dem Anwachsen sprachlicher Diversität in gesellschaftlichen Räumen einher (↗ Art. 100). Mit Coulmas (2005) wird unter Sprachregimes ein Bündel von Gewohnheiten, rechtlichen Regulierungen und Ideologien verstanden, die je nach sozialem Raum die Praxis der SprecherInnen in der Wahl der sprachlichen Mittel beschränken. Busch (2013: 135) verweist zudem darauf, dass es hierbei nicht nur um normative Regulierungen von Sprache, sondern auch um die Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen und Macht geht (↗ Art. 38). Sprachliche Integration und Partizipation unterliegen den jeweiligen Sprachregimes, die ihrerseits wiederum Einfluss darauf haben, wie sich das sprachliche Repertoire von ImmigrantInnen und MigrantInnen verändert. Um nur ein Beispiel zu nennen: In AustralienAustralien war die Zeit der Masseneinwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg aus nicht-englischsprachigen Ländern von einer konsequenten AssimilierungspolitikAssimilierungspolitik zugunsten eines einsprachigen Australiens gekennzeichnet. Andere Sprachen als Englisch waren in öffentlichen Räumen, in den Medien, im Buchbestand öffentlicher Bibliotheken usw. weitgehend ausgeschlossen; ImmigrantInnen sollten so bald wie möglich Englisch lernen und „so wie wir“ werden (Clyne 2003). Gegen die auf EinsprachigkeitEinsprachigkeit in Englisch ausgerichtete Assimilierungspolitik und zugleich gegen die repressive und rassistische Minderheitenpolitik richtete sich in AustralienAustralien, und sukzessiv in vielen anderen Ländern seit den 1970er Jahren, die Politik des MultikulturalismusMultikulturalismus. Sie wurde 1971 zuerst in KanadaKanada offiziell eingeführt und avancierte hier zum gleichermaßen komplementären wie konkurrierenden Prinzip der offiziellen ZweisprachigkeitZweisprachigkeit und der BikulturalitätBikulturalität. Zwar öffnet der Multikulturalismus mit der Anerkennung der Herkunftskulturen gewisse Räume für mehrsprachige Praktiken, hinter dem Rücken der Beteiligten setzt sich aber, wie die sprachlichen Verhältnisse im anglophonen Kanada zeigen, das Englische als dominante Sprache durch. Gegen die Politik des Multikulturalismus wenden sich das Konzept und die Politik der InterkulturalitätInterkulturalität, die im Sinne von IntegrationIntegration und Partizipation nicht mehr nur die Toleranz und das Nebeneinander der Kulturen und Sprachen, sondern das Miteinander und den Austausch favorisieren. Die Förderung interkultureller Kompetenzeninterkulturelle Kompetenz zielt dabei auf das kulturelle Selbst- und FremdverstehenFremdverstehen und auf das Erlernen von an Mehrsprachigkeit orientierten Strategien (↗ Art. 44), ohne das Erfordernis einer gemeinsam verfügbaren Sprache in öffentlichen Räumen in Frage zu stellen.
Mehrsprachigkeit in der Familie als primäre Sozialisationsinstanz für die darin aufwachsenden Kinder (↗ Art. 52) resultiert in der Regel entweder daraus, dass in einer Gesellschaft zwei oder mehrere Sprachen koexistieren und sie so auch in die FamilienkommunikationKommunikationin der Familie hineinreichen, oder mindestens einer der Partner unter Migrationsverhältnissen lebt und seine HerkunftsspracheHerkunftssprache(n) oder Zweitsprache(n) in der ErziehungErziehung der Kinder praktiziert. Im Kontext von Mehrsprachigkeit bedeutet Familiensprache oft jene für die Zwecke der mündlichen Kommunikation und des intimen und informellen RegistersRegistersprachliches verwendete Sprache des Alltags, die – weltweit betrachtet – überwiegend eine andere ist als jene, in der die schriftsprachliche Sozialisation erfolgt.
Elementare Aufgabe jeder Schule ist es, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Im Zuge der nationalstaatlichen Entwicklung erfolgt das Lernen in der Regel in der – oder ggf. in einer – Nationalsprache, somit im Modus der Einsprachigkeit. Für das schulische Erlernen weiterer Sprachen fand und findet dabei traditionell das Konzept der ‚Fremdsprache‘ Anwendung, dessen Sinn in vielsprachigen Migrationsgesellschaften jedoch in Frage zu stellen ist. Für Kinder, die bis zum Eintritt in die Schule nicht mit der Nationalsprache vertraut sind (↗ Art. 54), galt – und gilt auch heute noch – das Prinzip der Submersion Submersion, d.h. sie werden in die regulären Klassen eingeschult, indem darauf vertraut wird, dass sie im Kontakt mit ihren MitschülerInnen die Schulsprache erlernen. Seit den 1960er Jahren mehren sich die Versuche, der sprachlichen Diversität in den Gesellschaften dadurch Rechnung zu tragen, dass Modelle der Immersion Immersion erprobt werden. Hierbei werden SchülerInnen, deren Herkunftssprache eine andere ist als die Sprache der Schule, pädagogisch kontrolliert, vollständig oder teilweise in der Sprache der Schule unterrichtet. Dieses Modell verbleibt im Prinzip im Modus der Einsprachigkeit, es zielt aber auf die Förderung von ZweisprachigkeitZweisprachigkeit/Bilingualismus. Zweisprachige Modelle sind hingegen solche, in denen das Curriculum in zwei Sprachen dargeboten wird. Im transitorischen Modell werden homogene Klassen für eine gewisse Zeit in der Herkunftssprache der Kinder unterrichtet und ihnen zunehmend Unterricht in der Zweitsprache erteilt, bis sie, meist nach zwei bis sechs Jahren, in die regulären Klassen übergehen. Im Language-maintenance-Modell wird die Herkunftssprache der Kinder bzw. die Sprache des „kulturellen Erbes“ (‚heritage languageheritage languageHerkunftsspracheheritage languageHerkunftssprache‘) während der gesamten Schulzeit als Medium eines wesentlichen Teils des Curriculums neben der dominanten Sprache verwendet. Dagegen werden im Modell der reziproken Immersion reziproke Immersion ( Two-Way-Immersion ) SchülerInnen verschiedener Sprachgruppen, meist je zur Hälfte aus Einheimischen und aus einer Migrantensprachgemeinschaft, in beiden Sprachen unterrichtet. Die ZweisprachigkeitZweisprachigkeit/Bilingualismus wird in der gesamten Schulzeit verfolgt und hierbei lebensweltliche SprachpraxisSprachpraxis mit der bildungssprachlichen verbunden (ausführlich dazu Reich & Roth et al. 2002).
4. Sprachloyalität und Sprachumstellung
Für Menschen, die sich in anderssprachigen Räumen niederlassen, stellt sich notwendig die Frage, wie sie einerseits die gesellschaftlich dominante Sprache für eine differenzierte Lebenspraxis erlernen können und andererseits, wie sie mit der Sprache oder den Sprachen, die ihre bisherige Biographie geprägt hat oder haben, umgehen sollen und wie funktional diese Sprachen in der neuen Umwelt noch sind. Die beiden Begriffe SprachloyalitätSprachloyalität und Sprachumstellung (vgl. Fishmann et al. 1966) markieren die Pole einer Achse im Sprachverhalten von Migrantinnen und Migranten zwischen Erhalt ihrer Herkunftssprache(n) und der sprachlichen Akkulturation unter den sprachlichen Dominanzverhältnissen des Ziellandes (↗ Art. 106). Sprachloyalität ist dabei häufig ein Aspekt eines ganzen Bündels von identitätsbezogenen Merkmalen. Insbesondere bei Gemeinschaften, die in der Diaspora leben, verbindet sich religiös motivierte Abgrenzung mit dem Erhalt von erlernten sozialen Normen und der Praxis ihrer Herkunfts- bzw. Gemeinschaftssprache. Quer zu dieser Achse verläuft als andere Achse die des sprachlichen Ausbaus, verbunden mit der Frage nach dem Erlernen von sprachlichen Formen, Strukturen und Normen, die eine differenziertere SprachpraxisSprachpraxis als jene der familiär tradierten und mündlich geprägten Nähe-KommunikationKommunikationNähe- ermöglichen. Der sprachliche Ausbau erstreckt sich somit vor allem auf das Erlernen der auch für die Distanz-KommunikationDistanz-Kommunikation erforderlichen Ressourcen des formellen Registers, wie es sich im Medium der Schriftsprache entfaltet und auf diese Weise den Zugang zur Sprache der gesellschaftlichen Verwaltung, des Rechts, der Literatur, der religiösen Texte, der Wissenschaft etc. ermöglicht. Loyalität zur Herkunftssprache und -kultur stellt im Kontext von Migration zunächst eine individuelle Entscheidung dar, die eigene Sprache weiterhin zu kultivieren und als kulturelle Ressource zu nutzen, wie es nicht nur für die sprachlichen und oftmals religiös geprägten DiasporagruppDiasporagruppen (z.B. die Mennoniten/Amischen in den USA und Kanada) kennzeichnend ist. Sprachloyalität ist verbreitet auch als ein widerständiger Akt im Kontext von sozialer MarginalisierungMarginalisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft anzusehen, wenn z.B. durch verfehlte Immigrations- und Integrationspolitik, wie gegenüber türkischen ImmigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren, die Gemeinschaften auf sich selbst zurückgeworfen werden und sich quasi autark organisieren müssen (↗ Art. 109). Sprachumstellung hingegen resultiert aus dem individuellen Arrangement mit den dominanten sprachlichen Verhältnissen. Somit folgen Sprachloyalität wie Sprachumstellung maßgeblich den Setzungen der jeweiligen Sprachenregimes.
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