1 Die Schüler wurden im Alter von sechs Jahren aufgenommen. Darauf folgte ein fünfjähriger Besuch öffentlicher Vorlesungen. Die unterste Stufe ist dabei die neunte Klasse.15
2 Klassenlehrer ( classici praeceptores ) sind für den gesamten Unterricht des betreffenden Schuljahres verantwortlich. Fachprofessoren ( publici professores ) sollten öffentliche Vorlesungen in ihrer Disziplin halten. So garantiert Sturm eine Binnendifferenzierung in Lehre und Forschung.16
3 Der Unterricht folgt einer klaren äußeren Ordnung: „In allen Klassen wurden von Montag bis Samstag täglich jeweils fünf Unterrichtsstunden abgehalten, und zwar vormittags im Sommer von 6 Uhr bis 7 Uhr und von 8 Uhr bis 9 Uhr und im Winter von 8 Uhr bis 10 Uhr sowie nachmittags das ganze Jahr hindurch von 12 Uhr bis 2 Uhr und von 3 Uhr bis 4 Uhr. Die Unterbrechungen sollten den Schülern vermutlich Gelegenheit geben, Übungsaufgaben zu lösen. Dazu kamen noch besondere Stunden am Samstag und Sonntag für Religion und Kirchenmusik […].“17
Für Sturm stellt der Einsatz des Gesangs und musischer Elementeeine wichtige methodische Komponentedes Unterrichts am Gymnase de Strasbourg dar und ist Teil des methodisch geordneten Unterrichtskonzepts. Dabei nimmt die frühzeitig beginnendeFremdsprachenausbildung eine Schlüsselrolleein. Priorität gilt dem Sprechen.18 Sprachliche Bildung ( linguae informatio ) wird zur Schlüsselqualifikation der Persönlichkeitsbildung und des Weltwissens:
(1) Quare videndum est, ut prima liberorum aetatula mature ad linguae informationem dedatur. Ad loquendum enim homines quam ad cogitandum iudicandumque promptioram naturam habent et quod unicuique aptum est, ab eo principium in erudiendo debemus ducere. Sed ut loqui ita etiam recte facere pueri facillime assuescunt.19
Sturm unterstreicht die Bedeutung des Einprägens und Wiederholensund damit den schrittweisen Aufbau komplexer Kenntnisse.20 Alle Unterrichtsverfahren dienen dem Memorisierenund Nachahmen. Beispiele dafür sind das Anfertigen von Vokabellisten ( diaria bzw . ephemeridae ) in speziell geführten Vokabelheften ( commentariolus ), das Vortragen von Schulreden ( declamationes ), angeleitete Gespräche unter Schülern ( confabulationes ), Disputationen ( disputationes ) und das Theaterspiel ( comœdiae et tragœdiae ).21 Wesentliche Unterrichtstechniken waren das Psalmensingen ( psalmodia ), das Vorlesen biblischer Schriften ( recitationes ), das (angeleitete) Spiel ( ludus ),22 der Schülerwettstreit ( aemulatio ) und die Befragungen der Lehrer durch die Schüler innerhalb des Unterrichts ( interrogationes ). Schröder23 zeigt Sturms Mittlerrolle zwischen Tradition( Nachahmungim Rahmen der auf Einprägen ausgerichteten Unterrichtsweise) und Innovation(systematische Entwicklung und Anwendung des geordneten, stetig wiederholbaren Lehr-Lern-Verfahrens).
Einige dieser didaktisch-methodischen Verfahrennutzte Sturm in seinen Classicae Epistolae und verband diese mit dem Schultheater,wobei verschiedene Unterrichtsformenangewendet wurden, wie das Rezitieren von Textenund Dialogenoder das Singen von Liedern. Angela Weißhaar beschreibt, wie Studentenliederund Dramenmit einer Moralam Ende des Stückes an der „humanistischen Schulbühne des Johannes Sturm in Straßburg aufgeführt wurden. Sie bildeten einen gewissen Kontrast zu deren didaktischen Elementen.“24
Die Rolle von musischen Elementen im Schultheatersteht im Einklang mit der humanistischen Pädagogik der Renaissance. Bereits Luther hatte auf die prägende und erzieherische Rolle des Gesangsin der Lehrerausbildunghingewiesen.25 Dabei steht Sturm in Luthers Traditionund unterstreicht die Bedeutung des Gesangs im Unterrichtim Jahr 1565 in einem Brief an den Gesangslehrer des Straßburger Gymnasiums Mattias Stiffelreuter. Sturm will „dessen Methode in den Strassburger Schulen für immer eingepflanzt sehen“26 und besteht darauf, dass singen ( canere ) keineswegs schreien ( clamare ) bedeute.27 Stiffelreuter unterstreicht hier, dass der (Schul-) Chor sich vor „dem Ueberschreiten der Grenze zwischen Gesang und Geschrei“ hüten möge, „und dass der Sänger das ästhetische Empfinden nicht nur der Ohren, sondern auch der Augen des Publikums“ respektieren soll.28
Die Bedeutung und Wertigkeit von Musik als Chorgesangemanzipiert sich in Sturms gymnase demnach erstmals von den klassischen, naturwissenschaftlichen Fächern, wie Weber detailliert darstellt: „La musique figure à part entière aux côtés de l’astronomie, de la géométrie, des mathématiques. Les instructions à l’attention des cantors et des instituteurs sont nombreuses et révélatrices de l’importance réservée à la musique.“29
Musikalische Elementewerden also bewusstund ganz natürlichin den Theaterstücken verarbeitetund mit Tanzelementenverbunden. Weber führt das auf die Tradition der humanistischen Schulgestaltungzurück:
La musiqueest tout naturellement intégrée au drame scolaire, en raison de l’importance qui lui est attribuée dans la pédagogiede l’époque en cause. Elle est présente dans les chœursà la fin des actes ( chorus canens par opposition au chorus loquens , chœur parlé) . Elle se manifeste par une simple réplique chantéeà une voix par les élèves, ou exécutée à quatre voix par le chœur, en style „note contre note“ qui est aussi le moyen des Odes humanistes et du choral protestant en Allemagne, du Psaume en France.[…]. Les acteurs [also die Schüler, A. R.] peuvent également danser; dans certains drames, des interludes orchestrauxrehaussent l’atmosphère et servent d’obtenir le silence de la part des spectateurs; ceux-ci sont parfois appelés à chanter des choralsou des pièces grégoriennes connues, notamment le Te Deum , réminiscences des Matines qui représentaient le cadre lors des exécutions de drames semi-liturgiques.30
Édith Weber zeigt die Vorbildwirkungdes elsässischen humanistischen Schultheaters: „Dans les Pays Rhénans, le climat est particulièrement favorable à une extension rapide et durable du théâtre humaniste et scolaire, avec participation musicale; il connaîtra un essor extraordinaire.“31
Interessante Parallelen werden deutlich im zeitgenössischen Rappoltsweiler Schulmeisters eydt. 32 Der aus dem Beginn des 16. Jahrhundert stammende Eid des Rappoltsweiler Schulmeisters beschränkt sich nicht auf das rein rechtliche Element, sondern betrifft auch interne, organisatorische und vor allem soziale Schulangelegenheiten.Der Schulmeister (hier im Bereich der Musik Schulmeisterliche Chorregent ) muss den abendlichen Chorgesangmit seinen Schülern organisieren ( Obendsalve ), den Chor als Chorleiter leiten und dirigieren, bei Veranstaltungen in Basel begleiten und für Ordnung während der Predigt sorgen:
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