BEISPIELE FÜR DIE ANWENDUNG DES REALITÄTSANPASSUNGSTOPOS IM BILDUNGSDISKURS
Die Zeit für eine harmonische Integration und somit für eine Anpassung im Schulsystem drängt […] (LW4: 10.04.1989).
So stellt sich die Frage, ob nicht ein zweigleisiges Schulsystem mit einer frankophonen und einer germanophonen Ausrichtung der Realität eher angepasst wäre und die heranwachsende Generation besser auf die Zukunft vorbereitet würde? (LL7: 07.11.1986)
Langues: l’école doit être la même pour tous (LJ19: 17.07.1997).
Die zunehmend komplexe Situation der Sprachen, bedingt durch eine immer vielfältiger werdende Immigration, macht eine Neuanpassung des Sprachenunterrichts zur Dringlichkeit (LW2–3: 16.03.2007).
Wir haben in Luxemburg immer mehr französischsprachige Schüler. Die Berufsausbildung hat es immer noch nicht geschafft, diesen Wandel strukturell zu begleiten. […] Wir haben zwar französischsprachige Ausbildungen, aber es sind nicht genug. Zudem scheint die Zahl der Immigrantenkinder, die im Laufe des Jahres nach Luxemburg kommen, wieder zu wachsen. Darunter befinden sich viele Schüler, die das Potenzial für eine höhere Qualifizierung hätten – wenn unsere hohen Sprachanforderungen nicht wären. Fast alle unsere höher qualifizierenden Berufsausbildungen setzen Deutschkenntnisse voraus. Das geht völlig an unserer Realität vorbei (LL: 23.09.2010).
Kinder in Luxemburg sollen im Précoce Luxemburgisch, dann das Alphabet in Deutsch lernen und ein Jahr später mit einem Französischunterricht beginnen, der auf ein Niveau irgendwo zwischen Erst- und Zweitsprache abzielt. An dieser Dreifaltigkeit wird nicht gerüttelt. Obwohl die Realität andere Anforderungen stellt. Immer mehr Kinder sprechen daheim nicht Luxemburgisch als Erstsprache, sondern Portugiesisch oder Französisch oder Serbokroatisch (LL1: 02.09.2011).
Bereits im Jahr 1983 war im Mediendiskurs die Ansicht verbreitet, dass das Sprachenpensum, das in Luxemburg traditionell zu bewältigen ist, für Zuwandererkinder nicht zu schaffen sei:
Das sprachlose Kind
Weit über ein Drittel der Kinder, welche die Luxemburger Primärschulen besuchen, sind Ausländer. Sie verursachen das bedeutendste, wichtigste und schwierigste Schulproblem, das es in unserem Land in den nächsten Jahren zu lösen gilt. […] Es muss dringendst eine Lösung gefunden werden. Dazu kommt, dass Luxemburg es sich in seiner speziellen Dreisprachensituation nicht leisten kann, irgendwelche ausländischen Rezepte nachzubeten oder gar Europarat- oder Unescoentschlüsse unüberdacht und ungeändert hierzulande anzuwenden. Dies ist umso wahrer, als das Problem in Luxemburg regional, ja von Ortschaft zu Ortschaft verschieden ist. […] Aber der Sohn und die Tochter der Gastarbeiterfamilie sind mehr, weitaus mehr als bloße statistische Angaben, weitaus mehr als Störenfriede, der sonst angeblich heilen Welt der Schule. […] von den für Ausländerkinder schier unüberwindbaren Schranken des Prüfungs-, Examens- und Schulfaches „Deutsch“ einmal abgesehen […] Der kleine Ausländer sieht sich, bewusst oder unbewusst, als ein Störfaktor in einer Schule, in welcher er und seinesgleichen normalerweise in der Minderheit sind. Diese Schule benutzt Lehr- und Anschauungsmittel, die seiner Kultur fremd sind, und gebraucht als Grundlage alles Lernens und Wissens eine Sprache, die er nicht kennt, die von der seinigen in allen Zügen ihres linguistischen Wesens abweicht, und die ihm jedoch nicht als eine zu erlernende Fremdsprache angeboten wird, sondern die als bekannt oder doch ungefähr bekannt vorausgesetzt wird (LL6–7: 22.07.1983).
Über 30 Jahre später hat sich an diesem Befund wenig geändert. Der Migrantenanteil im Land liegt bei 45,3 % und die Schulpopulation weist mit 43,8 % einen Zuwandereranteil auf, der etwa genauso hoch ist (MENEJ/Université du Luxembourg 2015: 17). Das Argument, dass die Art und Weise wie Deutsch in Luxemburg unterrichtet werde, tausende Migrantenkinder in ihrer Ausbildung hemme, wiederholt sich:
Den in Luxemburg zur Schule gehenden Ausländerkindern werden zum Teil unüberwindliche Steine , in Form des Sprachunterrichts, in den Weg gelegt (LL7: 07.11.1986, eigene Hervorh.).
Le texte souligne aussi le handicap des enfants qui prennent le départ avec une autre langue maternelle que le luxembourgeois propre à faciliter l’apprentissage de l’allemand. […] Pour contourner l’obstacle linguistique (essentiellement l’allemand), certains décrochent certificats et diplômes dans la région frontalière ou dans les écoles privées au Luxembourg (LJ12: 24.04.1997, eigene Hervorh.).
L’allemand constitue une barrière infranchissable pour de nombreux jeunes portugais“, s’exclame Carlos Peixoto avec vigueur (LJ16 : 21.05.1998, eigene Hervorh.).
In der Diskursgemeinschaft besteht Konsens darüber, dass die Didaktik des Sprachenunterrichts und der Stellenwert der Bildungssprache Deutsch für die portugiesischen Migrantenkinder nahezu unüberbrückbare Hürden darstellen. Doch auf der anderen Seite ist der Stellenwert dieser Schulsprachen eng verknüpft mit der Identität des Landes:
66 Punkte umfasst der ‚Plan d’action langues’ des Unterrichtsministeriums. Sein Ziel ist die Neuausrichtung des Sprachenunterrichts, die in Luxemburg wohl wichtiger, aber auch deutlich komplizierter ist als in anderen Ländern. […] „Eine Reform wird wegen des besonderen Status von Deutsch und Französisch in Luxemburg nicht einfacher. Es ist wesentlich einfacher, sich über die notwendigen Kompetenzen für die Fremdsprache Englisch einig zu werden, als bei unseren beiden Nachbarsprachen, die zugleich offizielle Sprachen unseres Landes sind. Englisch hat den Vorteil, dass es eindeutig eine Fremdsprache ist“ (LW32: 09.02.2009).
In diesem Beispiel aus dem Medienkorpus taucht ein Argumentationsmuster auf, das als SUI GENERIS-TOPOS definiert wird und nach folgendem Muster verläuft:
Weil Luxemburg anders ist, sind auch die Ursachen/Folgen einer Bildungsreform andere.
Die sui-generis-Argumentation stellt die Besonderheit des Landes heraus. Sie wird angewandt, um zu verdeutlichen, dass Lösungen für Probleme nicht so einfach zu finden sind wie möglicherweise in anderen Ländern.
Schulreformen, die versuchen die Position einer Landes- und Schulsprache zu verändern, treffen innerhalb der Diskursgemeinschaft immer auf Widerstand. So wurde am 21. Mai 2014 folgende Nachricht in den luxemburgischen Medien verbreitet:
D’Associatioun vun de Franséichproffen ass entsat. Op 12ème an 13ème Technicien gëtt de Franséich-Cours gestrach! (Rtl.lu: 21.05.2014)5
Der luxemburgische Verband der Französischlehrer (Association des Professeurs de Français du Luxembourg APFL) hatte spät erfahren, dass das Bildungsministerium plante in den letzten beiden Jahren der kaufmännischen Ausbildung im technischen Sekundarschulunterricht auf das Fach Französisch zu verzichten.6 Die APFL lud sofort zu einer Pressekonferenz. Ihr Vorsitzender kritisierte die bildungs- und sprachpolitischen Pläne der Regierung:
Jean-Claude Frisch:„Dat ka jo net duer goen. Ech menge bis elo ware 4 Stonne Franséisch virgesinn. Dat wäert jo alt net vun „Dëlpessechkeet“ gewiescht sinn. Déi Leit, déi dat gemaach hunn, wäerte jo gewosst hu firwat. Et ass vläicht esou, ech menge mir wëssen dat jo hei am Land, datt vill Schüler [Problemer] am Franséischen hunn … vläicht ass dat do eng nei modern Manéier fir d’Problemer ze léisen. Da ma mer kee Franséisch méi, dann huet och kee méi Schwieregkeeten. […] Zënter dem Krich, bei alle Reformen, déi hei an deem Land gemaach si ginn, ass [et] all Kéiers op d’Käschte vum Franséisch […] gaangen. Et geet elo monter sou weider, an ech verstinn einfach dat globaalt Konzept, dat globaalt Raisonnement net, wat do derhannert steet. Op der enger Säit gesi mer, dat ëmmer méi d’Franséischt gefuerdert ass, fir datt een eng Aarbecht hei zu Lëtzebuerg kritt, an trotzdem gi mir op der anerer Säit hin a mir maachen ëmmer manner Franséisch“ (ebd).7
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