Weiter stromabwärts sichteten die Spanier noch mehr Siedlungen mit solchen Hoheitstafeln, aber die Bewohner waren nicht immer freundlich, und es kam zu ersten Kämpfen. Am 24. Juni 1542, nicht weit von der Mündung des Rio Negro entfernt, dem größten Nebenfluss des Amazonas, hatten sie ihre denkwürdige Begegnung mit den Amazonen selbst. Denn unterdessen hatten die am Stromufer wohnenden Leute ihre Herrin um Hilfe gegen die fremden Eindringlinge gebeten. Zehn oder zwölf große Kanus kamen den Booten der Spanier entgegen, voll mit indianischen Kriegern besetzt, die von Amazonen an der Spitze jedes Kanus kommandiert wurden. Diese Frauen kämpften so unerbittlich, dass keiner ihrer Leute einen Rückzug wagte, und wenn einer in Deckung ging, schlug die Kommandantin vor den Augen der Spanier mit einem Stock auf ihn ein. Sie lieferten ein gefährliches Gefecht, und die spanischen Boote gerieten derart in Bedrängnis, dass sie »von den vielen Pfeilen gespickt wie Stachelschweine aussahen« (Carvajal). Diese Amazonen werden als sehr groß und weißhäutig – vermutlich weiß bemalt – geschildert, das lange, schwarze Haar trugen sie geflochten um den Kopf gelegt. Ihre Gestalt war muskulös und splitternackt, Bogen und Pfeile gebrauchten sie mit großer Kraft, und Carvajal bestätigt, dass eine jede so tapfer kämpfte wie zehn Männer zusammen. Die Spanier stießen Stoßgebete aus, denn sie brauchten gegen die Amazonen offenbar viel Mut von ihrem Herrgott. Schließlich gelang es ihnen, einige Kriegerinnen zu besiegen und aus dieser gefährlichen Situation zu entkommen.
Ein Indianer, den sie gefangen hatten, sagte danach aus, dass dieses ganze Land um den Strom dem großen Herren Couynco gehöre, aber auch dieser Herr sei den Amazonen untertan. Deshalb wären sie gekommen, um das Ufer zu beschützen. Weiter berichtete er, dass die Amazonen ganz ohne Männer lebten und dass ihre Königin Conori hieße. Ihr Reich läge sieben Tagesreisen nördlich vom Strom, und er selbst, der als Tributbringer häufig dorthin kam, kannte allein 70 Siedlungen der Amazonen, die er mit Namen aufzählte. Diese Siedlungen würden nicht aus Holz und Stroh wie die Dörfer im Urwald bestehen, sondern sie wären Städte aus Stein mit Toren und Straßen. Als der Indianer gefragt wurde, wie die Amazonen denn Kinder bekämen, antwortete er, dass sie bisweilen, wenn sie Lust dazu hätten, einem großen Nachbarstamm den Krieg erklärten und nach dem Sieg dessen Männer in ihr Land wegführten und bei sich behielten, bis sie sich schwanger fühlten. Dann würden sie die Männer mit Geschenken heimschicken. Wenn sie später Söhne gebären würden, töteten sie diese oder schickten sie zu ihren Vätern, bekämen sie aber Töchter, dann zögen sie diese mit großer Feierlichkeit auf und lehrten sie die Kampfeskunst. Weiter berichtete er, was die Größe des Amazonenreiches betreffe, so seien alle Gebiete, die das weite Land der Amazonen umgeben, diesen untertan. Manchmal kämen andere Indianer den Strom von den Anden heruntergefahren, eine Reise bis zu 1400 Meilen, nur um die Amazonen zu besuchen. Doch kein Mann dürfe dort bleiben, sondern bei Sonnenuntergang müsse er aus ihren Städten fort sein. 57–
So kam es, dass der größte Strom der Erde »Rio las Amazonas«, der »Fluss der Amazonen« heißt, benannt nach den Kriegerinnen, welche die Spanier nach europäischem Vorbild als »Amazonen« bezeichneten. Deshalb trägt der große Strom in Südamerika bis heute den Namen der Heldinnen, über die einige griechische Autoren schrieben. Die Berichte von 1542 regten zu weiteren europäischen Expeditionen an, die das Reich der Amazonen finden wollten, aber niemand von diesen hat es je betreten. 1580 bereiste Walter Raleigh die Küsten von Guayana und hörte von einem Amazonenreich, das östlich von Guayana im Gebiet der Amazonasmündung liegen sollte. Die Amazonen wurden ihm als sehr reich an Gold und Silber geschildert, sogar ihr Hausgerät machten sie aus den edlen Metallen. Ihren Liebhabern schenkten sie beim Abschied grüne Steine, die »Amazonit« heißen, wobei Grün vermutlich die Farbe der Fruchtbarkeit ist. Genau in diesem Gebiet der großen Inseln in der Amazonasmündung hat die Archäologie jüngst eine sehr alte, städtische Kultur ausgegraben. Diese Menschen hatten Maisanbau, hochentwickelte Keramik, große Sippenhäuser auf künstlichen Hügeln und Göttinnenfiguren – alles in verblüffender Ähnlichkeit mit den frühesten, frauengeprägten Ackerbaukulturen an der Westküste Südamerikas (Valdivia und nachfolgende Kulturen). 58
1639 versuchte wieder ein spanischer Offizier das reiche Land der Amazonen zu finden, aber er gelangte nur zur Mündung eines nördlichen Nebenflusses des Amazonas, der aus ihrem Reich kommen sollte. Dabei erfuhr er, dass die Amazonen dort auf hohen Bergen wohnen, wo die Stürme das ganze Jahr über toben, und dass sie mit ihrem unermesslichen Reichtum die ganze Welt reich machen könnten. Eine weitere Expedition unternahm 1744/1745 der Franzose La Condamine. Indigene Leute erzählten ihm, dass die Amazonen nach den Eroberungszügen der weißen Männer ihre Wohnsitze noch weiter in die unzugänglichen Berge am Rio Negro und an der Quelle des Orinoko verlegt hätten. Die vorletzte Suche unternahm der deutsche Forschungsreisende Schomburgk im 19. Jahrhundert, der zwar keine Amazonen sah, aber eine Sage von ihrer Reichsgründung mitbrachte, nach der das Amazonenland in der Sierra Parima ansiedelt ist. 59
In der Sierra Parima entspringt die Quelle des Orinoko, ebenso liegen dort die Quellen aller nördlichen Nebenflüsse des Rio Negro, der selber der größte, nördliche Nebenfluss des Amazonas ist (siehe Karte 1). Der Gebirgszug Parima setzt sich in der Sierra Pacaraima fort; beide sind Teil des großen Gebiets der Orinoko-Berge in Venezuela, die bis 3000 Meter aufsteigen und das Becken des Orinoko von dem des Amazonas trennen. Dieses von Urwald umgebene, unzugängliche Bergland erstreckt sich weit nach Osten. Jenseits des breiten Tales des Rio Branco, auch ein nördlicher Nebenfluss des Amazonas, dehnt es sich östlich in der Sierra Roraima, Sierra Acari und zuletzt in den Tumuc-Humac-Bergen aus, einer unnahbaren und sehr wenig erforschten Region von 1000 Metern Höhe, um oberhalb der Mündung des Amazonas zu enden. Dieses riesige Areal muss das alte Wohngebiet eines großen Amazonenreiches gewesen sein. Wo sonst hätten die Frauen eine bessere Gegend finden können, um ihre zahlreichen Städte aus Stein zu bauen, die ihnen Schutz gegen die kalten Bergwinde boten, wo sonst hätten sie so viel Gold und Silber gewinnen können? Fast alle Berichte verweisen auf dieses Gebiet. Von hier aus konnten die Amazonen in ihren Booten mit Leichtigkeit das gesamte Flussnetz des Orinoko befahren, das genau vor den Inseln Trinidad und Tobago endet (siehe die Warraua-Mythe). Außerdem konnten sie von den nördlichen Nebenflüssen des Amazonas, die von diesen Gebirgsketten herunterfließen, große Strecken auf dem Stromsystem des Amazonas zurücklegen, die vom Rio Negro bis zur Amazonasmündung reichen, und sich alle ansässigen Indianerstämme entlang dieses Weges untertan machen. Auf diese Weise muss ihr Reich einmal eine ungeheure Ausdehnung oder einen weitgespannten Einfluss gehabt haben, wovon die Insel Tobago bei Trinidad vor dem Orinoko-Delta im Norden und die Inseln im Mündungsgebiet des Amazonas im Osten vielleicht die äußersten Teile gewesen sind.
Es fällt zudem auf, dass alle diese Berichte aus verschiedenen Jahrhunderten in der Schilderung des sozialen Gefüges und der Kulturhöhe der Amazonen, die den Urwaldstämmen weit überlegen war, übereinstimmen. Danach waren die Amazonen kultivierte Städtebauerinnen, sie besaßen Häuser, Stadtmauern, Tore, Tempel und Straßen aus Stein. Sie hatten kostbare Metalle und Edelsteine, trugen schöne Gewänder und Rüstungen oder waren in der heißen Schwüle des Urwalds manchmal unbekleidet. Die häuslichen Künste wie Töpferei und Weberei waren ebenfalls gut entwickelt, dazu kam gemäß einem Bericht der Gebrauch der Hängematte. Sie brachten damit für ihre Reichsgründung den kollektiven Hintergrund der weiblichen Künste mit, die typisch für matriarchale Kulturen sind.
Читать дальше