1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Diese Sage ist kein »Mythos, den Männer erfanden, um ihre Herrschaft über Frauen zu rechtfertigen«, ein Argument, mit dem diese Art von Erzählungen üblicherweise beiseitegeschoben wird. Denn warum sollten verheiratete Frauen plötzlich gegen den Status quo rebellieren, wenn sie nichts anderes als diese Art von ehelichen Umgangsformen kannten? Was hätte sie damit unzufrieden machen sollen? Viel wahrscheinlicher ist, dass ihnen ihre Versklavung durch die Ehemänner neu war, weil sie vorher in einer anderen Sozialordnung lebten, nämlich einer matriarchalen. Deshalb besaßen sie noch genug Selbstbewusstsein und Kraft, um sich dieses männlichen Zwanges zu entledigen. Bei Frauen von Arawak-Stämmen, um die es sich hier handelt, ist dieser matriarchale Hintergrund gesichert. Ihr Handeln ist dann nur konsequent und spiegelt den Umschlag von matriarchalen Mustern in amazonische Muster, mit denen sie sich gegen die ersten, patriarchalen Versuche von männlicher Seite, sie zu versklaven, wehrten.
Wer aber waren diese »Ehemänner«? Es können nicht Angehörige des eigenen Stammes der Frauen gewesen sein, da diese weder einen dauernden Ehemann-Status noch eine Herabwürdigung der Frauen kannten. Die »Ehemänner« müssen Angehörige anderer Völker gewesen sein, die den Stamm, zu dem die Frauen gehörten, angegriffen und erobert hatten, dann die Frauen entführten und zur Heirat zwangen. Solche Handlungsweisen sind von den patriarchalisierten Stämmen der Kariben und Tupi belegt. Sie überfielen Arawak-Gemeinschaften, töteten die Männer und zwangen die Frauen in die Ehe und Sklaverei.
Die Antworten der Arawak-Stämme auf diese fortwährende Bedrohung waren verschieden. Wie schon gesagt wichen viele den patriarchalisierten Stämmen aus und flohen in neue Gebiete. Andere, die bereits besiegt waren, kamen durch eine Frauenrebellion zu amazonischen Mustern, indem sie sich der Waffen der Feinde, Pfeil und Bogen, bedienten um ihre Freiheit zu verteidigen; gleichzeitig wählten diese Frauen den Rückzug in die unzugänglichen Orinoko-Berge. Wieder andere Besiegte gingen in den Stämmen der Gegner auf, weil sich die zwangsverheirateten Frauen nicht befreien konnten. Das führte allmählich zur Akkulturation, indem die Eroberer einige Kulturgüter und Bräuche von ihren Arawak-Frauen übernahmen. Zum Beispiel weisen die Küsten-Kariben manchmal Matrilinearität oder Matrilokalität auf und kennen das »Peito«-System, die lange Dienst-Ehe des Schwiegersohnes bei der Sippe der Gattin. Aber hier bleiben die Frauen immer von den spirituellen und politischen Angelegenheiten der geheimen Männerbünde ausgeschlossen. 67
Diese jahrtausendelange Entwicklung zwischen einer uralten, matriarchalen Kultur und immer stärker nachdrängenden, patriarchalisierten Stämmen erklärt, wie aus einem friedlichen Ackerbauvolk ein Kriegerinnenreich hervorgehen konnte. Amazonische Gesellschaften entstehen in der schwierigen und leidvollen Übergangszeit, in der patriarchale Volksgruppen zerstörerisch auf ältere matriarchale Kulturen prallen.
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
Die Amazonen errichteten ihr Reich in einem Gebirgsland, denn nur dort konnten sie Städte aus Stein erbauen. Sie brachten die Kunst der Steinbearbeitung und die weiteren handwerklichen Künste aus einem anderen Gebirgsland mit, in dem das Volk der Arawak einmal heimisch gewesen war, aus den Anden Kolumbiens und Perus. Lange vor dem Inka-Reich (ab 1440 n.u.Z.) gab es hier verschiedene kulturelle Zentren, die auf uralter Ackerbautradition und matriarchaler Sozialordnung beruhten. Ein jüngeres Zentrum, das an die Zeit der Inka heranreicht, war die Chibcha-Kultur mit fünf größeren, aufeinander folgenden Reichen, an Bedeutung den Reichen von Mexiko und Peru vergleichbar. 68Die Chibcha-Kultur begann ab 500 n.u.Z. als matriarchale Ackerbau- und Handelskultur, sie hat viele Kulturelemente mit den Arawak gemeinsam. 69Die archäologischen Funde zeigen, dass diese Kultur sich mit solchen Eigenschaften wie Steinhäusern, Terrassen, Bewässerungsanlagen, Straßen, Dämmen und Megalithplätzen in den Anden Kolumbiens und in Mittelamerika bis zur Halbinsel Yucatán ausgebreitet hat. Zugleich stieß sie, von den Anden kommend, energisch nach Osten in die Sub-Anden-Gebiete des Urwalds vor und siedelte besonders an den Oberläufen der großen Stromsysteme. Erst in den weiten, flachen Zonen des Urwalds wird sie allmählich schwächer. Unter dem Druck von neu einwandernden, patriarchalisierten Völkern, die von Westen kamen, wurde die Chibcha-Kultur immer stärker männerzentriert, bis sie zuletzt patriarchale Reiche ähnlich dem Inka-Reich bildete. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Arawak, die vermutlich die ältesten Träger der Chibcha-Kultur waren, dem Druck der Völker von Westen in den Anden Kolumbiens und Perus ausgewichen sind und in die weiten Gebiete der Nordküste Südamerikas und des östlichen gelegenen Urwalds auswanderten. Dabei nahmen sie ihre alte, hochentwickelte Kultur mit. Einige Arawakstämme werden wohl auch im Anden-Gebiet von den Neuankömmlingen unterworfen und in deren patriarchale Reiche eingegliedert worden sein. 70
Es gibt noch heute kleine Volksgruppen, die mit den Chibcha verwandt sind. Sie haben zwar die Kulturhöhe ihrer Vorfahren verloren und leben sehr verborgen, weisen aber interessante Züge auf: So folgen die die Capaya im Bergwald von Ecuador noch immer der Matrilinearität, errichten Sippenhäuser als Pfahlbauten und besitzen eine hohe Bootsfahrkunst (Abb. 3, siehe auch Abb. 2). 71Ein anderes Beispiel sind die Schipibo im Regenwald von Ost-Peru; auch sie besitzen noch Matrilinearität und Matrilokalität, und die Frauen haben ein großes Selbstbewusstsein im Vergleich zu Frauen von anderen Urwaldstämmen (Abb. 4). 72In der Sierra Nevada de Santa Martha im Norden Kolumbiens leben die Kagaba-Kogi; sie sind jetzt bilateral organisiert, das heißt, die Verwandtschaft der Töchter geht nach den Müttern, die der Söhne nach den Vätern, und sie kennen noch Sippenwechselheirat. Sie glauben an eine Schöpferingöttin namens »Gauteaovan«, die in Gestalt der Gebärmutter verehrt wird. Dabei werden sowohl die Erde und alle ihre Berge wie auch der Himmel als Gebärmutter aufgefasst, und der ganze Kosmos stellt in neun Schichten die neun Töchter dieser Urmutter dar. 73Jeder Tempel der Göttin, den sie errichten, hat die Form einer Gebärmutter und ist für sie ein Abbild des Kosmos (Abb. 5).
Abb. 3:Capaya-Frauen in ihrem Sippenhaus (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 162)
Abb. 4:Ältere Schipibo-Frau (Foto: Sandra Schett)
Abb. 5:Kágaba-Kogi-Indianer bei ihrem Bergheiligtum in der Form einer Gebärmutter (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 171)
Außer der hochstehenden historischen Chibcha-Kultur geht sehr wahrscheinlich auch die megalithische Tiahuanaco-Kultur am Titicaca-See in Bolivien (ab 550 n.u.Z.) mit den archäologischen Stätten in der Umgebung auf die Arawak zurück. Denn auch im bolivianischen Hochland haben sich kleine Gruppen mit abgesunkener Kultur erhalten, die mit den Arawak verwandt sind, sogar eine arawak-ähnliche Sprache sprechen. Es sind die Chipaya am Copaisa-See und bis vor kurzem die Uru am Titicaca-See, die ich bereits erwähnt habe (siehe Karte 1). 74Die Vorläuferin der Chibcha-Kultur und der Tiahuanaco-Kultur war die frühe Ackerbaukultur von Chavin (Peru, ab 1000 v.u.Z.), begleitet vom Kulturzentrum auf der Halbinsel Paracas (Peru, ab 600 v.u.Z.). Auf sie folgten die Kulturzentren Nazca und Moche (Peru, ab 0 u.Z.). Zu den Vorläuferinnen gehört auch die Malagana-Kultur im südlichen Kolumbien. Es ist auffallend, dass alle diese frühen Kulturen an der Pazifikküste Südamerikas liegen, mit einigen Ausläufern entlang kleiner Flüsse am Fuß der Anden.
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