Tamulu, der Dunkle, verkörpert alle Naturwesen und die Naturkraft auch im Menschen. Er ist der Gesetzgeber der Magie, der erste Richter und Medizinmann, in allem der ausführende Geist der Göttin. Sein jüngerer Bruder Tamusi, der Helle, verkörpert dagegen das menschliche Bewusstsein, wobei sein Intellekt noch recht unvollkommen ist und er oft in egoistische Tricksterei verfällt, so dass er selbst in Schwierigkeiten gerät. Er soll durch seine Streiterei das Goldene Zeitalter der Welt beendet haben. Meistens sind beide Brüder gute Freunde, nur bei Mondfinsternis nicht. Dann versucht der ältere Bruder Tamulu in Gestalt des Großen Jaguars den jüngeren Bruder Tamusi zu fressen. Als Jaguar ist er der Rächer für allen Unfug, den Tamusi in der Welt angerichtet hat. Auch als Wilder Jäger mit Donner und Blitz kommt Tamulu gelegentlich daher und verdunkelt zeitweilig das Licht des Tamusi. Er gibt ihn aber stets wieder frei, für den Augenblick. Doch am Ende der Zeit, wenn alles in der Schöpfung verdorben ist, kommt Tamulu als Blauer Jaguar zurück und zerstört die Welt und verschlingt die ganze Menschheit. 44–
Diese matriarchale Mythologie gibt eine uralte Schicht im indianischen Denken Südamerikas wieder. Sie tritt am deutlichsten bei den Arawak hervor. Bei den anderen patriarchalisierten Stämmen wurde die helle Seite des Mondes, Tamusi, immer stärker zum männlich-guten Prinzip gemacht, während die Mondfrau als Urmutter allmählich durch einen himmlischen »Großvater« verdrängt wurde. Zuletzt ersetzte der militante, patriarchale Sonnenkult der Inka in Peru und der Azteken in Mexiko die matriarchale Weltauffassung der Arawak-Kultur.
Von einer hochentwickelten Arawak-Kultur können wir zu Recht sprechen, denn die Archäologie entdeckte die von ihnen geschaffenen Megalithbauten und die kunstvolle Keramik, welche die Gefäßform mit Tier- und Menschengestalten verbindet. Die Arawak gelten als die eigentlichen Träger der Töpferei in Südamerika. 45Die Megalithbauten von teils erstaunlicher Kunstfertigkeit wurden in ihrem ganzen Wohngebiet gefunden. 46Diese Megalithsteine werden von den Arawak noch heute verehrt; sie hüten sie, damit sie nicht beschädigt werden oder verloren gehen. Außerdem glauben sie, dass die Steine Regen und Glück bringen können und Krankheiten heilen. 47Am bemerkenswertesten sind die sogenannten »Ballplätze«, die in jeder Siedlung vorkommen. Es sind rechteckige Areale, manchmal so lang wie Straßen, ringsum mit stehenden Steinen, das heißt, mit Platten und Menhiren geschmückt. Auf den Steinen kommen wie in Megalithgräbern und in Höhlen häufig Felszeichnungen vor. Gelegentlich sind diese Plätze auch rund oder oval. Sie erinnern außerordentlich an die Marae, die offenen Tempel der Polynesier im Pazifik. 48Alle diese Plätze sind Anlagen für Zeremonien, und das mit ihnen verbundene »Ballspiel« hatte religiöse und politische Bedeutung. Archäologen haben äußerst gleichmäßige, mannshohe Steinkugeln gefunden, die man für dieses Spiel brauchte. Die Indianer-Kulturen Mittelamerikas kannten ebenfalls Ballplätze und ein Ballspiel, zum Beispiel die Azteken in Mexiko; sie führten es mit einer großen Kautschuk-Kugel aus. Es war ein Spiel, bei dem es auf Leben und Tod ging, denn der Anführer der Siegerpartei wurde feierlich geopfert. 49Auch die Arawak spielten mit einem Kautschuk-Ball auf ihren Zeremonialplätzen. 50Den Nachbarstämmen fehlt dieses Spiel.
Wie sollen wir das Ballspiel verstehen? Der politische Zweck war vielleicht, Feindseligkeiten zu beschwichtigen und Konflikte rituell zu lösen, die zwischen verschiedenen Sippen oder Gemeinschaften entstanden waren. Die religiöse Bedeutung ist mit dem Symbol des Balles selbst verknüpft, der vielleicht den »Ball des Schicksals« als den Mond oder die ganze Welt bedeutete. Wir wissen nicht genau, welche Bedeutung dieses Symbol im matriarchalen Kontext hatte, aber vermutlich war es mit einer weiblichen Gottheit verknüpft. Es gibt einen indirekten Hinweis dafür, denn bei den späteren patriarchalen Azteken symbolisierte der Ball die zyklische Reise des Sonnengottes durch die Unterwelt und dann wieder zum Himmel hinauf. Vor dem Sonnengott gab es jedoch die Mondgöttin Amana der Arawak. Doch warum wurde der Anführer der Siegerpartei geopfert und nicht der Verlierer? Das kann aus der matriarchalen Vorstellung erklärt werden, der Großen Göttin nur den Besten von allen Menschen zu opfern, was in manchen Kulturen den Heiligen König betraf. Deshalb war es hier der Sieger im Ballspiel als der beste Mann.
1.2 Die Amazonen vom Amazonas
Die eben erwähnten archäologischen Funde weisen zurück auf den langen Wanderweg und die rätselhafte Herkunft der Arawak und ihrer Kultur. Um der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen, greifen wir die Überlieferung von Kriegerinnen in Südamerika wieder auf, einem weit verbreiteten Phänomen, das von europäischen Forschern oft beschrieben, aber kaum verstanden wurde. 51Berichte von kämpfenden Frauen in wohltrainierten Verbänden, die zusammen mit den Männern fochten oder in Abwesenheit der Männer allein ihre Dörfer verteidigten, sind von vielen südamerikanischen indigenen Völkern während des Widerstandes gegen die spanischen Eroberer überliefert. 52Doch in dem Gebiet, in dem die Arawak wohnten, verdichten sich diese Berichte über weibliche Kampfeskunst und reichen bis zu klaren Zeugnissen von rein weiblichen Gesellschaften. Das weist auf das noch viel weniger verstandene Phänomen von Amazonen hin, die als unabhängige Kriegerinnen und Gründerinnen von Städten ohne Männer handelten. 53Man muss sie klar von den viel häufiger vorkommenden Mitkämpferinnen an der Seite der Männer unterscheiden, um zu verstehen, was Amazonen sozialhistorisch bedeuten. Aber damit entsteht die Frage, warum wir ausgerechnet im Gebiet der Arawak, einer nach allgemeinen Aussagen friedlichen, matriarchalen Kultur, das Phänomen der Amazonen finden.
Folgen wir zunächst den Berichten und Zeugnissen: Auf den Antillen, besonders der Insel Santa Cruz, hatte schon Kolumbus nicht nur Männer, sondern auch kämpfende Arawak-Frauen gegen sich. 54Als patriarchale, christliche Männer waren die Spanier einen solchen Anblick nicht gewohnt und schrieben es deshalb genau auf. Waren diese Frauen noch Mitkämpferinnen an der Seite ihrer Männer, so ändert sich das Bild in einer alten Sage der Warraua, aufgezeichnet in Guayana. 55Nach dieser Erzählung soll es auf einer geheimnisvollen Insel namens Matenino (Tobago) in der Nähe von Trinidad ein kleines, unabhängiges Amazonen-Reich gegeben haben. Dorthin zogen Frauen ohne Männer und lebten als waffenkundige Kriegerinnen in großem Reichtum, sie besaßen schöne Gewänder und prächtige Rüstungen. Diese auch auf den Antillen bekannte Sage weist darauf hin, dass es Kriegerinnen schon lange vor der Ankunft der Spanier gegeben hat und dass sie unabhängig kämpften und männerlose Gesellschaften bildeten. Sie waren also echte Amazonen. Warum entstanden ihre Gründungen?
Den Amazonen bei Trinidad begegneten die Spanier nicht mehr, dafür hatten sie eine gefährliche Begegnung mit den Amazonen vom Amazonas. Dieses zur Zeit der spanischen Eroberung noch sehr lebendige Amazonenreich lässt sich nicht in den Bereich der Sage verweisen: Nachdem die Brüder Pizarro das Inka-Reich in Peru zerstört und die indigenen Anden-Völker brutal unterworfen hatten, beschlossen sie, um noch mehr »Goldland« zu finden, jenen sagenhaften, großen Strom im Osten zu erforschen, von dem die Indianer ihnen berichtet hatten. Der tatsächliche Entdecker des Amazonas wurde einer ihrer spanischen Offiziere namens Orellana, nach dem der Strom ursprünglich heißen sollte. Aber Orellana erlebte derartige Überraschungen, dass der größte Strom der Erde einen anderen Namen erhielt. Im Jahr 1542 erreichte er mit seiner Expeditionsmannschaft über zwei Nebenflüsse den Amazonas, und der das Tagebuch führende Priester Carvajal begleitete ihn. 56Carvajal berichtet, dass sie zuerst auf Siedlungen am Flussufer stießen, in denen Hoheitstafeln aufgestellt waren, auf denen eine ummauerte Stadt abgebildet war. Ortsansässige Indianer sagten dazu aus, dieses Zeichen sei das Emblem ihrer Herrin; sie wären ihre Untertanen und würden Tribut in Form bunter Papageienfedern für ihre Tempel bringen. Diese Herrin gebiete über das Land der Amazonen, das nördlich vom Strom im Inland läge.
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