Die Geschichte der Arawak geht bis auf die Anfänge der Besiedelung Amerikas durch Ackerbaukulturen zurück, sie sind ein uraltes, geheimnisvolles Volk. Für das hohe Alter ihrer Kultur spricht, dass sie verblüffende Ähnlichkeit mit den alten Ackerbaukulturen der Vor-Inka-Zeit in den Anden haben (Chibcha in Kolumbien, Tiahuanaco in Bolivien, um 550 n.u.Z.). Diese Kulturen gehen ihrerseits auf die noch ältere Chavin-Kultur in den Anden zurück (1000 v.u.Z.). Die Chavin-Kultur wiederum hat ihre Wurzeln in der sehr alten Valdivia-Kultur an der Pazifikküste von Ecuador, eine der ersten Ackerbaukulturen auf dem Boden ganz Amerikas überhaupt (ab 3000–1500 v.u.Z.). 4Die Frage wird uns noch beschäftigen, woher diese kam und in welch große historische Tiefe die Arawak-Tradition zurückreicht.
In der Zeit vor Kolumbus zogen sie, die heute als Insel-Arawak bekannt sind, von Südamerika kommend über Trinidad zu den Kleinen Antillen und diesen folgten sie nordwärts wie auf einer Stufenleiter zu den Großen Antillen. In früherer Zeit bewohnten sie weite Gebiete im Norden Südamerikas, so lebten sie sowohl an den Küsten Kolumbiens und Venezuelas rings um die Karibik (Zirkumkaribische Arawak) wie auch in den Urwaldgebieten Guayanas und Nordbrasiliens (Wald-Arawak). Entlang der Wasserläufe des Orinoko-Beckens und über den Rio Negro bis hin zum Amazonasbecken fand ihre Kultur weiteste Verbreitung, ihre Spuren wurden am gesamten Oberlauf des Amazonas und in Enklaven an der Amazonasmündung gefunden. Denn sie waren in ihren Einbaumbooten überaus geschickte Fluss- und Seefahrer.
Karte 1:Wanderungsbewegungen und Verteilungsgebiet der Arawak in Südamerika
Noch heute finden sich Volksteile der Arawak in Ostbolivien und Ostperu als Sub-Anden-Arawak, wie die Campa , und isolierte, den Arawak verwandte Gruppen sogar auf dem Anden-Hochland, wie die Uru am Titicaca-See und die Chipaya am Copaisa-See. Sie sind Zeugen für die weite geografische Ausdehnung, die ihr Gebiet einst besaß (Karte 1). 5In dieser riesigen Region waren sie die Kulturgeber, was sich nicht nur auf die materielle Kultur, sondern auch auf die Sozialordnung bezieht. Ihre materielle Kultur hat sich durch ihre verschiedenen geographischen Lebensbedingungen sehr unterschiedlich entwickelt, aber ihre gemeinsame Sprache und ihre besonderen sozialen und religiösen Muster verbinden sie. Ihre Sozialordnung ist matrilinear und matrilokal, sie leben in Sippen zusammen. 6Gewisse Einzelzüge wie Matrilinearität finden sich auch bei benachbarten Stämmen bis nach Südbrasilien und Argentinien ( Ge, Bororo ) und gehen auf die Arawak zurück. 7
In der jüngeren Geschichte waren die Arawak diejenigen Volksgruppen, die am härtesten von der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus getroffen wurden. In ihrem weiten Verbreitungsgebiet auf dem südamerikanischen Kontinent, in dem die spanischen Eroberer sie nach der Vernichtung der Antillen-Arawak antrafen, ereilte sie überall dasselbe Schicksal. Ganze Stämme brachen im Kampf ums Überleben gegen Ausbeutung, Krankheiten und Krieg zusammen. Durch den permanenten Genozid wurden indigene Völker entlang der Küsten und der großen Wasserwege sehr schnell ausgelöscht oder absorbiert. Selbst diejenigen, die sich verstecken konnten, erlitten bereits vor jedem Kontakt mit den Weißen durch Flucht und Krankheit Schaden. Dabei ist es gleichgültig, ob die Fremden als Eroberer, Kolonialherren, Missionare oder Siedler kamen, denn die Wirkung für diese Völker blieb dieselbe. So waren Missionsstationen oft der erste Kontakt, aber durch sie wurden Seuchen eingeschleppt, ganz zu schweigen von der Kulturzerstörung durch aufgezwungene christliche Werte. 8Diejenigen, die bei den Missionsstationen blieben, starben zuerst aus, während ihre widerspenstigen Stammesgenossen sich in den Urwald zurückzogen und zu ihrer alten Lebensweise zurückkehrten. Aber diese Überlebenden konnten hier, in die unwirtlichsten Gebiete des Kontinents vertrieben und von ihren anderen Stammesmitgliedern getrennt, die Höhe der Kultur, die sie einst besessen hatten und über welche die Archäologie beredtes Zeugnis abgibt, nicht aufrecht erhalten. Massive Dekulturation war die Folge. 9Sie sanken auf die Stufe einfachster Urwald-Kultur herab, wie die Campa, 10oder überlebten als Sekundär-Viehzüchter in glühender Wüste, wie die Goajiro auf der Halbinsel Guajira am Golf von Maracaibo (Kolumbien).
Da die Goajiro-Arawak mit 60.000 Menschen die größte indigene Gesellschaft in Kolumbien und in Venezuela sind, können wir uns anhand von ihnen ein genaueres Bild von der Arawak-Gesellschaft machen. Sie haben ihr Schicksal sehr anpassungsfähig gemeistert. Als die Spanier auf sie stießen, lebten sie schon auf der wüstenhaften Halbinsel Guajira und hatten ihr Auskommen durch Fischfang und reiche Perlengründe, deren Geheimnis der Nutzung nur sie kannten. Davor waren sie wahrscheinlich Ackerbauern gewesen, doch lange vor der Ankunft der Spanier waren sie, durch andere Indianervölker verjagt, auf der Halbinsel eingewandert. 11Die Perlengründe konnten ihnen die Spanier nicht so leicht wie Gold wegnehmen, und so kam es zu einem Tauschhandel. Die Goajiro-Arawak erwarben als Gegenwert von den Spaniern Haustiere wie Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner, Rinder und Pferde und bauten eine nomadische Viehzüchterwirtschaft auf, die neue Basis ihres Überlebens. Außerdem begannen sie Salz zu verkaufen, das sie aus den Salzpfannen am Meer gewannen. Heute arbeiten viele von ihnen in der Erdöl-Industrie am See von Maracaibo. Der Wasserknappheit auf ihrer trockenen Halbinsel begegnen sie mit dem Bau technisch hochentwickelter Brunnenschächte. Ihre Häuser sind heute durch das nomadische Leben sehr einfach. Kommt es aber durch etwas Wohlstand zu einem festen Dorf von 200–250 Bewohnern, dann bauen sie stabile Ziegelhäuser, decken diese mit Schindeln aus gespaltenen Kakteen und umhegen das Dorf zuletzt mit einer Kaktushecke. 12
Die Goajiro bilden etwa dreißig große Clans, die in der Mutterlinie organisiert sind, jede Sippe mit eigenem Territorium und mit einem verschiedenen Tier als Erkennungszeichen. Die älteste Frau, die Sippenmutter oder Matriarchin, hält ihren Clan zusammen. Ihr ältester Bruder ist der Vertreter des Clans nach außen und genießt hohes Ansehen. Aus diesen männlichen Sippenvertretern wird der Dorfhäuptling gewählt und die Wahl fällt immer auf den, dessen Clan den relativ größten Wohlstand hat. Als Häuptling muss er sich für das Dorf verausgaben, denn er ist nun verpflichtet, mit dem Vermögen seiner Sippe allen anderen Schutz zu geben. Dadurch sinkt der Wohlstand seines Clans beträchtlich. Sobald dessen Mittel sich verringert haben, wird der nächste Mann eines wohlhabenden Clans mit denselben Pflichten zum Häuptling gewählt. Mit dieser intelligenten Methode werden die Güter in Umlauf gehalten, und es kann nicht zu einer Güterhäufung bei einigen wenigen kommen, der allgemeine Lebensstandard gleicht sich immer wieder aus. Außerdem haben diese Häuptlinge keinerlei Befehlsgewalt, sondern nur die Aufgabe, das Dorf nach außen zu vertreten. 13Mit der Verteilung ihrer Güter gewinnen sie und ihre Sippen nichts außer »Ehre«. Dieses Ansehen bewirkt jedoch, dass sie in Notzeiten von den anderen nicht im Stich gelassen werden.
Der Lebenslauf jeder einzelnen Person ist untrennbar mit der Sippe verbunden, denn die Sippe, repräsentiert durch die Clanmutter, schützt ihre Angehörigen. Diese erwidern es dadurch, dass sie alles zur Stärkung und Verteidigung ihrer Sippe tun. Die wirtschaftliche Basis jeder Sippe ist das Vieh, es ist Gemeinschaftsbesitz und wird gemeinschaftlich betreut. Die Männer weiden und tränken die Herden, die Frauen melken, stellen Käse her und bereiten das Fleisch zu. Viehdiebstahl ist ein ebenso großes Verbrechen wie die Vergewaltigung einer Frau, beides wird mit der strengsten Strafe geahndet, denn dadurch ist die Ehre einer ganzen Sippe beleidigt worden. 14
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