Die religiös-kulturellen Muster matriarchaler Gesellschaften sind: Verehrung der Ahninnen und Ahnen als dem anderen Teil des Clans; sehr konkreter Wiedergeburtsglauben, nach dem jeder Mensch im selben Clan wiedergeboren wird; Heiligung der Erde und des Kosmos als Schöpfergöttinnen; Göttlichkeit der ganzen Welt; es gibt kein dualistisches Weltbild und keine dualistische Moral; alles im Leben ist Teil des symbolischen und rituellen Systems. Ich nenne sie deshalb sakrale Gesellschaften als Kulturen der Göttin.
In vorliegenden Band II richtet sich der Fokus nun auf die Makrostrukturen matriarchaler Gesellschaften, das heißt, auf Institutionen, die über die Sippenordnung hinausgehen und auf das gesellschaftliche Gefüge insgesamt verweisen. Es werden auch Gefüge von mehreren matriarchalen Völkern untereinander dargestellt. Diese Großformen politischer Organisation können sehr verschiedene Strukturen haben. Man kann dabei erkennen, dass matriarchale Gesellschaften mit ihrer ganz eigenen Politik »Staaten« bilden – wenn man das überhaupt so nennen kann. Ich gebrauche diesen Begriff nicht, denn unter »Staat« wird von Beginn der Geschichtsschreibung an bis heute eine Struktur von hierarchisch organisierter Herrschaft verstanden, das heißt, eine patriarchale Gesellschaftsform. In diesem Sinne haben matriarchale Gesellschaften keine »Staaten«, obwohl sie Großformen bilden können. Diese Großformen sind staats- und herrschaftsfrei.
Das heißt, matriarchale Gesellschaften sind keineswegs zu klein oder zu »primitiv«, um große Gebilde aus mehreren Völkern politisch hervorzubringen. Das können sie durchaus und haben es in ihrer Geschichte oft getan. Das Erstaunliche an diesen Großformen ist, dass sie nicht wie bei patriarchalen Gesellschaften durch hierarchischen Druck von oben zusammengehalten werden, sondern dass auch diese komplexen Strukturen auf dem Boden von Egalität und Konsens aller Mitglieder gebildet werden. Das setzt eine hohe Kunst politischer Integration voraus, die wir bei ihnen beobachten können. Gleichzeitig geschieht es durch eine grundsätzlich friedfertige Politik, mit der sie solche Großformen stiften, nicht durch flächendeckende Eroberung, wie bei der Entstehung von patriarchalen Staaten und Reichen üblich.
Die Kontinente Westasien und Europa kommen in diesen beiden Bänden nicht vor, weil sie keine gegenwärtigen, indigenen matriarchalen Gesellschaften mehr besitzen. Das heißt aber nicht, dass ihre Gesellschaften keine restlichen matriarchalen Elemente mehr haben können. Doch ich konzentrierte mich bei meiner Forschung auf jene Gesellschaften, die noch vollständige oder nahezu vollständige matriarchale Muster aufweisen. Würde ich in allen Kontinenten jene Gesellschaften hinzunehmen, die heute noch mehr oder weniger restliche matriarchale Elemente haben, so ginge ihre Zahl in die Hunderte, eine Aufgabe, die hier nicht das Thema ist. Vollständige matriarchale Gesellschaften hat es jedoch für einen langen Zeitraum in der Geschichte Westasien und Europas gegeben. Das habe ich in Band III dieser Reihe dargestellt: »Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Westasien und Europa« (2019).
Zum Schluss möchte ich meinen Wunsch aussprechen, dass die hier begonnene Forschung viele aufgeschlossene Menschen in patriarchalen Gesellschaften erreichen möge. Denn sie kann Frauen in ihrem feministischen Kampf unterstützen, indem sie eine andere, bessere Gesellschaftsform kennen lernen, die zutiefst mit ihnen zu tun hat. In derselben Weise kann sie Männer in alternativen Bewegungen unterstützen, weil sie einen anderen männlichen Typ präsentiert und zeigt, dass Gewalt und Krieg der Menschheit nicht angeboren sind. Es gibt eine Alternative zu patriarchalen Rollenbildern und zur patriarchalen Gesellschaftsform. Diese ist keine abstrakte Utopie, weil sie Jahrtausende lang friedfertig existierte. Sie ist ein Erbe der ganzen Menschheit.
Ebenso ist es mein Wunsch, dass diese Forschung zu den Menschen in indigenen matriarchalen Gesellschaften zurückkehrt, damit ihnen zunehmend bewusst wird, dass sie dieses wertvolle Erbe noch besitzen und dass es eine weltweite Geschichte hat. Damit verknüpft sich meine Hoffnung, dass diese Erkenntnisse sie in ihrem politischen Kampf um ihre kulturelle Identität und Selbstbestimmung stärken mögen.
Auf dem Weghof, März 2021
Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
für Amana, Mondfrau und Große Schlange,Schöpferin des Universums,und für Mamona, die Erdmutter der Arawak
Als Kolumbus Amerika entdeckte, brach über die indigenen Völker das Schicksal als eine Serie von Terror herein: Krankheiten, Versklavung, Kulturzerstörung und Völkermord, Gräuel, die noch heute nach 500 Jahren nicht beendet sind. Nach seiner Reise über den Atlantik landete Kolumbus auf den Bahamas (1492), besuchte von hier aus das nördliche Kuba und das nördliche Haiti. Die ersten Indianer, die er antraf, waren die Arawak (Aruak), die damals auf den Inseln der Großen und Kleinen Antillen lebten. Auf diesen Inseln hatten sie eine hoch entwickelte Kultur geschaffen, die »Taino-Kultur« genannt wird. Nach Kolumbus Abreise zerstörten sie sein Fort. Auf seiner zweiten Reise (1493–96) entdeckte er alle Inseln der Großen Antillen, etablierte die feste Siedlung Isabela auf Haiti und »pazifierte« die Indianer, indem er sie tributpflichtig machte. Alle drei Monate sollten sie eine bestimmte Menge Gold abliefern. Bei seiner dritten Reise (1500) setzte er einen spanischen Gouverneur über Haiti ein, und das Tributsystem wurde der ganzen Insel aufgezwungen. Aber die Einheimischen Haitis waren nicht in der Lage, den Tributforderungen nachzukommen, deshalb wurden Goldminen gebaut und die männliche Hälfte der Taino-Arawak-Bevölkerung zur Sklavenarbeit in den Goldminen oder auf den Plantagen der Kolonialherren gezwungen. Das geschah nach Meinung der Spanier zum »Wohl der Indianer«: Sie durften nun Spanisch lernen und zum Christentum übertreten. Jedoch verhungerten die versklavten Taino-Arawak bei der Arbeit oder begingen Selbstmord. Mütter töteten ihre Kinder, um ihnen das Los der Erwachsenen zu ersparen. Schwarze Pocken grassierten und dezimierten die Bevölkerung, so dass schon 1535 von sechs Millionen Indianern (Schätzung) nur noch 500 auf der ganzen Insel übriggeblieben waren. 1
Um die verlorene Arbeitskraft zu ersetzen wurden nun Taino-Arawak von anderen Inseln des Karibischen Meeres importiert, aus Puerto Rico und Jamaika; damit waren diese zu demselben Schicksal verdammt. In der gleichen Zeit begannen die spanischen Herren mit dem Handel von Sklaven aus Afrika, weil sich die indigenen Taino-Arawak als »arbeitsuntauglich« erwiesen. Als sich die Indianer gegen diese Behandlung wehrten und rebellierten, wurden ihre Aufstände schnell und äußerst brutal niedergeschlagen, die Gefangenen grausam massakriert. Zwischen 1540 und 1550 waren die Goldminen auf Haiti erschöpft und die umliegenden Inseln boten nicht viel von diesem Metall. Da wandten sich die Spanier den sagenhaften Goldländern Mexiko und Peru zu, wo sie denselben zerstörerischen Prozess einleiteten. In Haiti wurde die Sklaverei abgeschafft, aber es war zu spät, als dass die Einheimischen noch etwas davon hatten. Denn als Francis Drake 1585 Haiti besuchte, gab es dort keinen einzigen Indianer mehr. 2
Dennoch leben heute noch einzelne, verstreute Gruppen von Insel-Arawak an anderen Orten. Auf der Antillen-Insel Kuba konnten sich ungefähr 2000 von ihnen vor den spanischen Eroberern verstecken, andere flohen von Kuba aus nach Florida. Nachdem die Antillen für die Spanier uninteressant geworden waren und sie die Zwangsarbeit aufhoben, konnten die Taino-Arawak auf Kuba in relativer Ruhe in ihren Siedlungen wohnen. Sie vermischten sich mit den Spaniern und nahmen deren Kultur an, so dass um 1900 nur noch 400 Indigene übrig waren. Auch am südlichen Ende der Antillen-Inseln, auf Trinidad, wo Kolumbus 1498 gelandet war, überlebten Insel-Arawak, denn diese Insel diente den Spaniern nur als Stützpunkt auf der Suche nach »El Dorado«, dem Goldland im Süden. Ihre Zahl wurde jedoch durch Sklaverei, Revolten und Krankheiten drastisch reduziert, so dass 1830 gerade noch 726 von ihnen lebten, heute sind es nur 200 Taino-Arawak. 3–
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