Dies zeigt den Weg, den die Valdivia-Kultur nahm. Sie kam als die Kultur der Urbevölkerung des Pazifik, der Menehune, übers Meer und stieß als früheste matriarchale Ackerbaukultur die weitere jungsteinzeitliche Entwicklung in Süd- und Mittelamerika an. Es würde das plötzliche Erscheinen dieser Kultur auf amerikanischem Boden erklären, wobei ihr Weg allerdings nicht plötzlich war, sondern als die erste Besiedelung der pazifischen Inselwelt lange Jahrtausende brauchte. Auch die Besonderheit dieser Kultur zeigt die Kontakte zwischen Polynesien und Südamerika, zum Beispiel ist die Süßkartoffel, eine Pflanze, die in den Anden kultiviert wurde, auch in Polynesien verbreitet. 85Zusätzlich zur Ähnlichkeit der Kulturgüter bestätigt die moderne Genetik solche Kontakte: Es gibt eine genetische Abstammungslinie, die als einzige nicht nach Sibirien oder Alaska verweist – woher angeblich alle frühen Völker in den amerikanischen Doppelkontinent eingewandert sein sollen. Sie ist in Süd- und Mittelamerika am stärksten vertreten und reicht mit dem nördlichsten Ausläufer bis zu den Inselkulturen der Nordwestküste von Nordamerika. Ihre Herkunft verweist nach Südostasien. 86
Damit markiert Valdivia den frühesten Beginn des Matriarchats in Südamerika, das über den Pazifik kam. 87Die Arawak und die südamerikanischen Amazonen spiegeln dagegen eine späte Phase derselben Kultur, als diese durch nachrückende patriarchale Stämme in Bedrängnis gerieten und aus ihren angestammten Gebieten nach Osten und Norden vertrieben wurden. Damit kommen wir zur zweiten Frage: Wodurch entstand die Patriarchalisierung in Südamerika, die diese Verdrängung verursachte?
Auch darauf lässt sich eine Antwort finden: Es gibt ebenfalls bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen der Kultur der späteren polynesischen Kriegerhäuptlinge und den Sitten patriarchalisierter, südamerikanischer Stämme, wie zum Beispiel den Kariben und Tupi. Beide Gesellschaften bildeten geheime Männerbünde und schlossen Frauen generell aus ihren offenen Tempeln aus, die in Polynesien »Marae« heißen. 88In diesen Ahnentempeln schworen sich die Männer Bündnistreue, führten die Vaterlinie ein, nachdem sie Jünglinge rituell selbst »neugeboren« hatten, und tauschten Geheimnisse aus, die unter Androhung strenger Strafen vor Frauen und Nichteingeweihten bewahrt werden mussten. Eine Hierarchie wurde aufgebaut, an deren Spitze der Kriegerhäuptling mit reichen Privilegien stand. So kamen diese Geheimbünde einer Kriegerkaste gleich, in der Raub, Krieg und Beuteverteilung organisiert wurden. Der Inhalt der Geheimnisse bestand in der Verehrung von patrilinearen Ahnen, denen in den offenen Tempeln männliche Gefangene geopfert wurden. Zuletzt wurden Trophäen aus ihnen gemacht. Kannibalismus, Schädelkult, Tänze mit Vermummung und Gesichtsmasken dienten ebenfalls dieser Art von Ahnenverehrung. 89Die Medizinmänner des Stammes waren regelmäßig Mitglieder der Bünde. Sie besaßen besonders zauberkräftige Sprüche und Substanzen, und sie erzählten die alten Mythen des Stammes neu, nämlich vermännlicht und mit herabsetzender Ideologie gegen die Frauen. Religion wurde auf diese Weise in soziale und politische Macht pervertiert. 90
Im pazifischen Raum und Südamerika zeigen diese geheimen Männerbünde die hier genannten, gleichen Muster. Die polynesischen Kriegerhäuptlinge bildeten mit ihren Kriegern solche Bünde, die sie durch die langen Wanderungszüge auf dem Ozean und die anschließenden Kriege gegen die ansässige Urbevölkerung der pazifischen Inseln aufgebaut hatten. Sie unterwarfen diese Erstbevölkerung, soweit sie nicht fliehen konnte, und machten sie zu Sklaven, welche die Last der Arbeit zu tragen hatten. Dabei wurden deren handwerkliche Künste durch die neuen Herren ausgenutzt. Strenge Sozialhierarchie gliederte ab jetzt die allgemeine Gesellschaft, was den Reichtum der Häuptlinge und eine Intensivierung der polynesischen Seefahrt erst zuließ. Auf den Gesellschaftsinseln mit Tahiti und dem Marquesas-Archipel hieß diese versklavte, arbeitende Urbevölkerung noch »Manahune« oder »Makaainana«, und mit letzterem Wort wurde sie auch in Hawai’i benannt. 91
Aber wie weit einzelne Stämme der Urbevölkerung, die Menehune mit ihrer matriarchalen Kultur, auch über den Ozean reisten, die Bedränger folgten ihnen irgendwann. Denn auch deren Stämme wuchsen allmählich und suchten neues Land, auch sie fanden die Küsten Südamerikas (später als 1000 n.u.Z.). Hier stießen sie auf ähnliche Verhältnisse wie im Pazifik, das heißt, das Land war schon vor ihnen besiedelt worden. Darum ließen hier die patriarchalen Formen von permanentem Kleinkrieg, Raubzügen und Verdrängung oder Unterwerfung der Urbevölkerung keineswegs nach. Vermutlich wurden auch sie selbst schließlich durch weitere patriarchale Neuankömmlinge bekämpft und weitergedrängt. Es entstand ein Bevölkerungsdruck und Völkergeschiebe in der Küsten- und Andenregion im Westen Südamerikas. Aber wie weit die älteren, matriarchalen Völker, wie die Arawak, auch über Land vor ihren Bedrängern flohen, diese folgte ihnen irgendwann mit der immer gleichen Aggressivität. Zuletzt wurde das südamerikanische Drama zwischen matriarchalen und patriarchalen Völkern schlagartig beendet durch Kolumbus und die Spanier, die ihrerseits eine verheerende, tödliche Art von Patriarchat mitbrachten.
1.4 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaft (Fortsetzung)
Allgemein:
• Die erste Entwicklung der matriarchalen Ackerbaukulturen in Amerika begann im Süden, und zwar an der Westküste von Süd- und Mittelamerika. Von hier aus verbreiteten sie sich in den östlichen und nördlichen Teil des Kontinents.
• Die Einwanderung einiger agrarischer, matriarchaler Volksgruppen in Südamerika fand über die pazifischen Inselkulturen statt (Südroute), sie stießen die jungsteinzeitliche Entwicklung in Südamerika an.
• Das Phänomen von matriarchalen Frauen als Kriegerinnen an der Seite der Männer war weitverbreitet. Es tritt auf, wenn matriarchale Kulturen durch Eroberung von außen vom Untergang bedroht sind.
• Amazonenreiche hat es gegeben (in verschiedenen Kontinenten). Amazonen unterscheiden sich von den mit ihren Männern kämpfenden Frauen, indem sie Berufskriegerinnen sind und männerlose Gesellschaften bilden.
• Amazonenreiche stellen eine rudimentäre Variante der matriarchalen Sozialordnung dar. Sie entstehen unter extremen Bedingungen in der Übergangsphase zwischen matriarchalen und frühpatriarchalen Gesellschaften.
• Geheime Männerbünde von Kriegern sind Zellen von frühen Patriarchalisierungsprozessen. Sie können entstehen, wenn durch Landknappheit und gegenseitige Verdrängung von Völkern charismatische Führer und Berufskrieger wichtig werden.
• Männerbünde verhalten sich in ihren Gesellschaften parasitär: Sie leben ökonomisch auf Kosten der Gesellschaft, haben oberste Führer, bilden männliche Hierarchien und Erzwingungsstäbe. Sie entwickeln eine rituelle Patrilinearität als neuen Wert, indem die jungen Männer durch Männer »neugeboren« werden.
• Geheime Männerbünde sind aus dem Pazifischen Raum und Südamerika ethnologisch zahlreich belegt, ihre Muster gleichen sich. Sie führen zu einer Vermännlichung oder Patriarchalisierung ihrer Völker, bedrängen und vertreiben benachbarte matriarchale Völker durch Raub und permanente, kriegerische Aggression.
Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
für Mu Olokukurdilisob,Große Erdmutter und Blaue Schmetterlingsgöttin der Kuna
2.1 Die Kuna, das »Goldene Volk«
Die zirkumkaribische Zone erstreckt sich über die Antillen-Inseln und entlang der Nordküste Südamerikas, die dem Karibischen Meer zugewandt ist: Kolumbien, Venezuela, Guayana. Sie umfasst auch die Landengen Mittelamerikas: Panama, Costa Rica, Nicaragua, schließt ebenso die Halbinsel Yucatán ein und reicht über die Landenge von Tehuantepec bis nach Mexiko hinauf (Karte 3). Dieses gesamte Gebiet besaß eine dichte indigene Bevölkerung und große Bevölkerungszentren. Die einzelnen Kulturgruppen hatten sich zwar auf verschiedene Weise an die sehr unterschiedliche natürliche Umgebung angepasst, sie zeigten aber viele gemeinsame Züge, die in den frühen geschichtlichen Phasen der Anden-Kultur vorhanden waren. Es muss also kontinuierliche Auswanderung vom Andengebiet über Nordkolumbien nach ganz Mittelamerika hinein stattgefunden haben, wobei die Wanderungsbewegung auch hier von Süd nach Nord ging. Diese frühen Kulturen erstreckten sich einst von den Anden über das Maya-Gebiet bis nach Mexiko. 1
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