1.4 Was kommt nach der Abschaffung des Gutachterverfahrens?
2017 wurde das Gutachterverfahren reformiert. Der Umfang der Berichte wurde reduziert. Die Begutachtung von Fortführungsanträgen ist faktisch entfallen. Mit nur einem Antragsbericht kann nun die verfahrensspezifische Höchstgrenze erreicht werden. Früher waren hierzu drei Begutachtungsschritte nötig. Diese Verschlankung führte bereits dazu, dass die Anzahl der Gutachten seit 2017 deutlich abgenommen hat. Zudem hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung das Gutachterverfahren zu einem Peer-Review-Verfahren umgestaltet, das als hochwertiges Qualitätssicherungsverfahren gelten kann. Dies erfolgte durch die Erhöhung der Anzahl der Gutachter und durch eine transparente Regelung der Bestellung zum Erst- und Zweitgutachter.
Ohne eine Evaluation dieser Strukturreform abzuwarten, wurde 2019 das Gutachterverfahren per Gesetz abgeschafft. Hier wurde durchregiert; der Selbstverwaltung wurde kein Spielraum gelassen. Dies erfolgte völlig überraschend in einem sogenannten Omnibusverfahren ohne ausreichende Beratung durch Berufsverbände und ohne nennenswerte parlamentarische Diskussion. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) wurde beauftragt, bis Ende 2022 ein alternatives Verfahren der Qualitätssicherung zu erarbeiten. Wie dieses aussehen soll, ist nicht ansatzweise klar. Vermutlich ist die Alternative mit viel Bürokratie verbunden und stellt gegenüber dem bisherigen Gutachterverfahren eher einen Qualitätsverlust dar. Zu erwarten sind Fragebögen, die die Prozessqualität einer Psychotherapie nicht angemessen abbilden können. Wenn Begutachtung und Beantragung abgeschafft sind, wird es wahrscheinlich auch keine Kontingente mehr geben. Damit entfällt die Planungssicherheit für Therapeuten und Patienten. Wenn es kein vorab fest zugesichertes Kontingent mehr gibt, sind nachträgliche Wirtschaftlichkeitsprüfungen zu erwarten. Die Psychotherapeuten befinden sich damit in einer ähnlichen Situation wie Ärzte in der somatischen Medizin: Nachträgliche Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regressforderungen werden an der Tagesordnung sein. Doch nicht nur die Therapeuten sind die Leidtragenden des politischen Schnellschusses. Wahrscheinlich führt die erfolgte Gesetzesänderung auch zu einer Benachteiligung schwer kranker Patienten, für die es dann noch schwieriger als ohnehin schon wird, einen Therapieplatz zu finden. Zudem kann dies dazu führen, dass Patienten mit einer komplexen und komorbiden Erkrankung zu kurz behandelt werden. Der politische Wille war wohl eine Vereinfachung für Psychotherapeuten und Patienten. Das tatsächliche Ergebnis ist aber für Patienten und Therapeuten zweifelhaft und ungewiss. Das Gesetz von 2019 ist mit der heißen Nadel gestrickt. Der Gesetzgeber nahm sich nicht die Zeit für eine angemessene Beratung mit Fachverbänden und für die Antizipation der tatsächlichen Konsequenzen in der Praxis. Fazit: Das Gesetz ist vielleicht gut gemeint, aber nicht gut gemacht.
2 Verhaltenstherapeutische Diagnostik
2.1 Klassifikatorische Diagnostik
Die Erfassung der Symptomatik, der psychopathologische Befund nach dem AMDP-System, der somatische Befund und die Krankheitsanamnese sind die Basis für eine Diagnose nach gängigen Klassifikationssystemen (ICD-10, DSM-5).
Klassifikatorische (psychiatrische) Diagnostik hat als zentrales Ziel die Stellung einer Diagnose. Es besteht ein wesentlicher und prinzipieller Unterschied zwischen psychiatrischer und verhaltenstherapeutischer Diagnostik. Moderne psychiatrische Diagnostik weist die folgenden Charakteristika auf: Sie ist symptombezogen, deskriptiv (AMDP-System), operationalisiert, nicht ätiologisch orientiert, abstrahierend und klassifizierend. Eine Diagnose nach ICD-10 stellt die Basis für eine Behandlungsfinanzierung in der gesetzlichen und in der privaten Krankenversicherung dar. Eine derartige Abstraktion und Klassifikation ist also notwendig und sollte mit der nötigen Sorgfalt und Präzision durchgeführt werden. Eine Diagnose ermöglicht eine Orientierung für ein standardisiertes, manualgeleitetes Vorgehen. Mit der richtigen Diagnose kann man geeignete Behandlungsmanuale auswählen, die man für die Therapie nutzen kann und auch einsetzen sollte. Eine Klassifikation ist also wichtig, aber nicht ausreichend. Sie ist hilfreich, um die spezifisch verhaltenstherapeutische Exploration vorzubereiten.
Das Hauptziel der ätiologisch orientierten verhaltensanalytischen Diagnostik ist ein funktionales Bedingungsmodell, also eine Verhaltensanalyse, aus der Therapieziele und Behandlungsplan individualisiert abgeleitet werden. Zentrale Ziele der Verhaltensanalyse sind also die hypothesengeleitete Ableitung von konkreten/operationalisierten Therapiezielen und die Konstruktion eines individualisierten Veränderungskonzepts.
Der epochale Aufsatz zur Verhaltensanalyse wurde von Kanfer und Saslow 1965 unter dem Titel »Behavioral Analysis« publiziert. Schon der Untertitel »An Alternative to Diagnostic Classification« zeigt, dass bei der Verhaltensanalyse etwas grundlegend anderes als Klassifikation intendiert wird, nämlich Individualisierung und ein plausibles ätiologisch orientiertes Störungsmodell. Kanfer und Saslow (1965) vollzogen einen Paradigmenwechsel von der klassifikatorischen Statusdiagnostik zur funktionalen Verhaltensanalyse (Ubben 2017, S. 13). Auch das im aktuellen PTV 3 geforderte funktionale Bedingungsmodell steht in der Tradition von Kanfer und Saslow. Der erwähnte bahnbrechende Aufsatz von Kanfer und Saslow aus dem Jahr 1965 ist die Basis für alle späteren Schemata der Verhaltensanalyse.
Für eine korrekte Diagnosestellung muss man zwei Dinge kennen und beachten: die Definition der psychopathologischen Begriffe und die Diagnosekriterien nach ICD-10 (und nach DSM-5).
Für eine verhaltenstherapeutische Exploration sind zusätzliche Kenntnisse nötig. Man muss mit der Lerntheorie vertraut sein und gängige Störungsmodelle kennen, um gezielt beim individuellen Patienten die relevanten Informationen für die Verhaltensanalyse zu explorieren. Hier gilt der Satz von Jean-Jacques Rousseau: »Man muss viel gelernt haben, um über das, was man nicht weiß, fragen zu können.«
Die verhaltensanalytische Exploration zeichnet sich durch zwei Spezifika aus: Sie ist ätiologisch orientiert und hypothesengeleitet. Die ätiologische Orientierung von Richtlinien-Psychotherapie ist in der Psychotherapie-Richtlinie (§ 3) verankert. Explizit wird betont (Psychotherapie-Richtlinie § 17 Abs. 1): »Verhaltenstherapie im Sinne dieser Richtlinie erfordert die Analyse der ursächlichen und aufrechterhaltenden Bedingungen des Krankheitsgeschehens (Verhaltensanalyse). Sie entwickelt ein entsprechendes Störungsmodell und eine übergeordnete Behandlungsstrategie, aus der heraus die Anwendung spezifischer Interventionen zur Erreichung definierter Therapieziele erfolgt.«
2.2 Psychopathologischer Befund
Es ist zu empfehlen, sich an etablierten Deskriptionsmodellen mit operationalisierten Begriffen zu orientieren, am besten am AMDP-System. Die Abkürzung AMDP steht für Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie. Der Befund soll symptombezogen und deskriptiv dargestellt werden. Da es sich um einen Querschnitt, also eine Momentaufnahme handelt, ist das Präteritum das korrekte Tempus. Der Befund ist eine ähnliche Momentaufnahme wie eine Kernspintomographie oder ein Laborbefund. Eine psychiatrische Diagnose kann aufgrund des psychopathologischen Befundes (Querschnitt) und des Verlaufs (Längsschnitt) gestellt werden.
Es wäre ein eklatantes Missverständnis und ein gravierendes Monitum, sich im psychopathologischen Befund lediglich auf den Ausschluss einer psychotischen Symptomatik und die Verneinung von akuter Suizidalität zu beschränken. Die zentrale Aufgabe besteht darin, die vom Patienten in seinen Worten geschilderte Symptomatik in adäquater Fachsprache (AMDP-System) abstrahierend zu beschreiben und zu klassifizieren.
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