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Rechtstatsächlich wurde die Bedeutung der Compliance zunächst vor allem von größeren und international tätigen Gesellschaften erkannt; inzwischen hat sich aber die Überzeugung durchgesetzt, dass risikoadäquate Compliance-Maßnahmen in Unternehmen jeglicher Größe erforderlich sind. Die Unternehmensorganisationen werden durch entsprechende Abteilungen ergänzt, entweder separat oder – seltener – als Teil der Rechtsabteilung, wobei große Unterschiede hinsichtlich der verfügbaren Ressourcen bestehen. Fachverbände wie Ethics and Compliance Switzerland (ECS) oder die Swiss Association of Compliance Officers (SACO) fördern den Erfahrungsaustausch, insbesondere auch hinsichtlich der Strukturierung und laufenden Überprüfung adäquater Compliance-Management-Systeme.
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Im Sinne des für dieses Handbuch geltenden Compliance-Begriffs soll nicht auf die gesamte Gesetzgebung eingegangen werden – denn grundsätzlich verpflichtet jeder Gesetzesartikel des zwingenden Rechts zur Compliance –, viel mehr soll spezifisch im Hinblick auf die regulatorische Entwicklung der letzten Jahre und der diesbezüglichen Praxis von Behörden und behördenähnlichen Institutionen berichtet werden. Dies geschieht immer unter dem Blickwinkel, dass sich eine ausländische Gesellschaft in der Schweiz ansiedeln will, sei es mit ihrem Headquarter oder aber – was häufiger der Fall ist – durch ihre Tochtergesellschaft.
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Auf zwei Besonderheiten des Schweizer Rechts ist dabei vorweg noch einzugehen:
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In der Schweiz hat sich das föderalistische Prinzip bis heute bewährt, so dass viele Behörden nicht auf Bundesebene, sondern auf Kantonsebene, manchmal sogar auch auf Gemeindeebene angesiedelt sind. Dabei kann es sich bei den Kantonsbehörden sowohl um Behörden mit selbstständigen Kompetenzen als auch um Ausführungsorgane von Bundesbehörden handeln. |
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Die Schweiz hat in einem beachtlichen Ausmaß staatliche Compliance-Regelungen durch Selbstregulierung ersetzt. Es sind in diesen Fällen nicht staatliche Behörden, sondern private Institutionen, wie die Börse oder die Selbstregulierungsorganisationen im Bereich der Geldwäscherei, welche die Regeln setzen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie deswegen einen minderen Durchsetzungsgrad hätten. Wer sich nicht an die Regeln der Selbstregulierungsorganisation hält, verletzt ebenso staatliches Recht wie derjenige, der eine staatliche Weisung missachtet. |
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Hinzu kommt ein kulturelles Element: Schweizerische Behörden, selbst solche mit Untersuchungsaufgaben – wie z.B. die Wettbewerbskommission, die Finanzmarktaufsicht (FINMA) und Steuerämter – verhalten sich in der Regel bürgernah und kundenfreundlich. Wer mit ihnen in Kontakt tritt, wird nicht a priori als Gegner empfunden. Mit den meisten Behörden besteht die Möglichkeit, Vorhaben oder offene Fragen zu diskutieren. Oft zeigen die Behörden auch einen Weg auf, um ein Problem zu lösen. Dies bedeutet nicht, dass schweizerische Behörden keine harten Sanktionen aussprechen oder das Recht nicht effektiv und unter Wahrung rechtsstaatlicher Garantien durchsetzen. Dennoch ist die Beziehung zwischen Unternehmen und Behörden stärker durch Kooperation geprägt, als dies in Deutschland der Fall ist.
2. Kapitel Grundlagen für Compliance› C. Schweiz› II. Unternehmensstrafrecht und Compliance-Management
II. Unternehmensstrafrecht und Compliance-Management
1. Unternehmensstrafrecht
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Seit dem 1.10.2003 besteht in der Schweiz ein Unternehmensstrafrecht, d.h. Unternehmen können strafrechtlich mit einer Buße bis zu 5 Mio. CHF belangt werden. Unter gewissen Voraussetzungen kann das Fehlen einer adäquaten Compliance-Organisation damit auch strafrechtlich sanktioniert werden. Die entsprechende Regelung in Art. 102 Strafgesetzbuch (StGB) umfasst zwei Sachverhalte:
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Generell untersteht das Unternehmen einer subsidiären Haftung für Verbrechen oder Vergehen im typischen Risikobereich des Betriebes (nicht aber für Übertretungen, also bloß mit Buße bedrohte Straftatbestände), die wegen mangelhafter Organisation keiner natürlichen Person im Unternehmen zugerechnet werden können. |
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Bei spezifischen Tatbeständen, nämlich bei aktiver Bestechung im öffentlichen und privaten Sektor, bei Geldwäscherei, Terrorismusfinanzierung und Beteiligung an bzw. Unterstützung einer kriminellen Organisation, besteht eine direkte Strafbarkeit des Unternehmens, soweit organisatorisch nicht alles Zumutbare und Notwendige vorgekehrt wurde, um die Straftat zu verhindern (Art. 102 Abs. 2 StGB). Voraussetzung ist allerdings, dass sowohl die objektiven als auch die subjektiven Tatbestandsmerkmale der fraglichen Straftat durch eine oder mehrere Personen im Verantwortungsbereich des Unternehmens realisiert wurden (vgl. dazu BGer 6B_124/2016 vom 11.10.2016). |
Bemessungsgrundlage für die Buße sind sowohl die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens als auch die Schwere der Tat, die Größe des Schadens und die Schwere des Organisationsverschuldens (Art. 102 Abs. 3 StGB).
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Daneben bestehen in einzelnen Gesetzen Bestimmungen über die Strafbarkeit des Unternehmens, wie etwa im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer (DBG) oder im Steuerharmonisierungsgesetz (StHG), je im Zusammenhang mit Steuerhinterziehung durch das Unternehmen. Im Verwaltungsstrafrecht (also bei strafbewehrten Verstößen gegen Verwaltungsgesetze) des Bundes können die strafverfolgenden Behörden nach dem sog. Opportunitätsprinzip auf die Fahndung nach verantwortlichen Einzelpersonen verzichten und stattdessen das Unternehmen büßen; Voraussetzung ist allerdings, dass eine Buße von maximal 5 000 CHF in Betracht fällt (Art. 7 des Bundesgesetzes über Verwaltungsstrafrecht, VStrR). Außerhalb dieser Spezialbestimmungen und der generellen Norm zur strafrechtlichen Haftung von Unternehmen (Art. 102 StGB) können juristische Personen nicht strafrechtlich wegen Gesetzesverletzungen in ihrem Machbereich verfolgt werden. Allerdings können im typischen Risikobereich des Unternehmens begangene Straftaten nach den Regeln der Geschäftsherrenhaftung unter bestimmten Voraussetzungen den Leitungspersonen mit beherrschender Stellung zugerechnet werden. Rechtsgrundlage ist in diesem Fall Art. 11 StGB bzw. im Verwaltungsstrafrecht Art. 6 VStrR. Weiter kann ein Unternehmen ungeachtet seiner Strafbarkeit den Zugriff auf Erlöse verlieren, die als Deliktserlöse zu qualifizieren sind (Art. 70–73 StGB). Die letztgenannten Sanktionen sind, obschon keine Kriminalstrafen, häufig für Unternehmen ungleich schmerzlicher (da in der Regel mehrfach höher) als die eigentlichen Unternehmensbußen nach den Bestimmungen über die Unternehmensstrafbarkeit. Trotz verbreiteter Kritik werden schließlich Kartellrechtsverstöße nach den besonderen Verfahrensnormen des KG untersucht und geahndet. Prozessual unterliegen kartellrechtliche Sanktionen gem. Art. 49a KG nicht den Regeln des Unternehmensstrafrechts, womit sich betroffene Unternehmen nicht auf den Schutz strafprozessualer Grundsätze berufen können.
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Mit Ausnahme der vorgenannten spezialgesetzlichen Bestimmungen ist somit für das Unternehmensstrafrecht die Bestimmung von Art. 102 StGB zur Strafbarkeit für mangelhafte Organisation zentral. Die subsidiäre Haftung für Nichtauffinden eines Individualtäters im Unternehmen gem. Abs. 1 der Bestimmung hat in der Praxis kaum Bedeutung erlangt, wie auch durch einen kürzlich ergangenen Entscheid zu Compliance-Verstößen bei PostFinance bestätigt wird (vgl. dazu, allerdings stark einschränkend, BGer 6B_124/2016 vom 11.10.2016). Sehr wohl relevant ist aber die zweite Variante: Die Unternehmenshaftung für mangelhafte Compliance zur Verhinderung von aktiver Korruption, Geldwäscherei, etc. Die für die Vermeidung der Unternehmensstrafbarkeit notwendigen Compliance-Maßnahmen knüpfen im Wesentlichen an die Compliance-Prinzipien an, die das Bundesgericht im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung von Verwaltungsrats- und Geschäftsführungsmitgliedern entwickelt hat.
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