Teil 4 Grundsätzliches zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme bei der Steuerhinterziehung
31
Um die Probleme bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung auf der Grundlage der aktuellen Entwicklungen in der wissenschaftlichen Diskussion bezüglich der Tatherrschaftslehre näher untersuchen zu können, bedarf es zunächst eines Blicks auf den Tatbestand der Steuerhinterziehung. Der Straftatbestand der Steuerhinterziehung ist innerhalb des § 370 AO in sieben Abschnitte eingeteilt. Für die Untersuchung von Tatherrschaft bei der Steuerhinterziehung steht der erste Absatz im Zentrum des Interesses, der normiert, wer sich wegen Steuerhinterziehung strafbar macht. Die nachfolgenden Absätze, die sich unter anderem mit der Strafbarkeit des Versuchs (Abs. 2), der Regelung eines besonders schweren Falles (Abs. 3) und einer Beschreibung des Taterfolges (Abs. 4) auseinandersetzen, sind im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dagegen von untergeordneter Bedeutung.
Normative Grundlage für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung ist § 369 Abs. 2 AO. Danach gelten für Steuerstraftaten die allgemeinen Gesetze über das Strafrecht, soweit die Strafvorschriften der Steuergesetze nichts anderes bestimmen. Im Hinblick auf Täterschaft und Teilnahme gibt es keine speziellen Regelungen in den Strafvorschriften der Steuergesetze, was die Anwendbarkeit des § 25 StGB mitsamt den hierzu vertretenen Täterlehren zur Folge hat. Wie einleitend ausgeführt, wird für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme ganz überwiegend „die Tatherrschaftslehre“ zugrunde gelegt.[1] Es findet sich jedoch zumeist keine klare Aussage dazu, welche der verschiedenen denkbaren Formen der Tatherrschaftslehre[2] konkret zur Grundlage gemacht wird.[3] Vor diesem Hintergrund fokussiert sich die nachfolgende Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung auf die Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne. Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass diese Lehre heute wohl als gedanklicher Ausgangspunkt aller Tatherrschaftslehren herangezogen werden kann, was den Ansatz nahe legt, eine Untersuchung von Tatherrschaft im Rahmen der Steuerhinterziehung in erster Linie an diesem Maßstab zu messen. Auf dieser Grundlage soll nachfolgend zunächst untersucht werden, inwieweit die Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne überhaupt dem Grunde nach auf die Steuerhinterziehung übertragbar ist. Hintergrund dieser Frage ist der Umstand, dass Roxin das Tatherrschaftskriterium lediglich im Bereich sogenannter „Allgemeindelikte“ für anwendbar hält, wohingegen im Bereich sogenannter „Pflicht-“ und „eigenhändiger“ Delikte die Tatherrschaft nicht das entscheidende Kriterium bei der Bestimmung von Täterschaft sein soll.[4] Vor diesem Hintergrund bedarf es nachfolgend zunächst einer Einordnung des Deliktscharakters der Steuerhinterziehung. Daran anschließend soll der Blick kurz auf die Bestimmung von Täterschaft im Rahmen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO gerichtet werden. Sodann geht es um die Frage, zu welchen Ergebnissen die Tatherrschaftslehre im von Roxin verstandenen Sinne im Rahmen der Steuerhinterziehung kommt und zu welchen Schwierigkeiten ihre Anwendung in Bezug auf die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme führt. Diese Untersuchung wird sich an der von § 25 StGB vorgegebenen Struktur orientieren und demzufolge jeweils gesondert die Anwendbarkeit des Tatherrschaftskriteriums auf die unmittelbare-, die mittelbare- und die Mittäterschaft untersuchen.
[1]
Siehe dazu bereits obenRelativität des Rn. 1 ff.
[2]
Siehe bzgl. einer ausführlichen Darstellung verschiedener Tatherrschaftslehren Schild Tatherrschaftslehren, insbesondere S. 33 ff.
[3]
Soweit ersichtlich stellt allein Ransiek Kohlmann Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 98.1 ausdrücklich auf das von Frister geprägte Kriterium der „Entscheidungsherrschaft“ ab. Siehe dazu Frister Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 351 ff.
[4]
Siehe dazu bereits oben Rn. 14 ff.
Teil 5 Der Deliktscharakter des § 370 Abs. 1 AO
Inhaltsverzeichnis
A. § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt
B. § 370 Abs. 1 AO als reines Allgemeindelikt
C. Stellungnahme
32
Zunächst ist somit der Deliktscharakter des § 370 Abs. 1 AO und damit die Frage von Bedeutung, inwieweit es sich bei § 370 Abs. 1 AO um ein Allgemeindelikt oder ein Pflichtdelikt handelt.
Ausgehend vom Wortlaut des § 370 Abs. 1 AO lässt sich dessen Deliktscharakter dem ersten Anschein nach umstandslos einordnen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen der Nr. 1 einerseits und den Nrn. 2 und 3 andererseits. Wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO) macht sich strafbar, wer pflichtwidrig handelt. Die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung setzt damit in den Unterlassungsvarianten dem Wortlaut nach die Verletzung einer spezifischen Pflicht voraus. Es scheint daher alles dafür zu sprechen, dass § 370 Abs.1 Nr. 2 und Nr. 3 AO als Pflichtdelikte im von Roxin verstandenen Sinne zu kategorisieren sind.[1] Anders verhält sich dies dagegen bei einer Betrachtung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO. Hier verzichtet der Gesetzgeber dem Wortlaut des Tatbestandes nach auf die Verletzung einer spezifischen Verpflichtung und knüpft stattdessen ganz allgemein an das Tätigen unrichtiger oder unvollständiger Angaben als Tathandlung an. Damit scheint auch der Deliktscharakter des § 370 Abs.1 Nr. 1 AO auf der Hand zu liegen: Dadurch, dass der Gesetzgeber positiv an ein tatbestandsmäßiges Handeln und gerade nicht an ein pflichtwidriges Unterlassen anknüpft, wirkt die Steuerhinterziehung in der Begehungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO geradezu als Prototyp eines Herrschaftsdeliktes, das keine spezifische Pflichtverletzung voraussetzt und in dessen Rahmen es zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme deshalb auf das Kriterium der Tatherrschaft ankommen müsste. Bei unbefangener Betrachtung des Steuerhinterziehungstatbestandes zeichnet sich demnach insgesamt ein verhältnismäßig eindeutiges Bild von dessen Deliktscharakter. Trotzdem werden gegen die Differenzierung des § 370 Abs. 1 AO in ein Allgemeindelikt (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) und zwei Pflichtdelikte (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AO) verschiedene Einwände vorgetragen.
[1]
BGH v. 24.10.2002, 5 StR 600/01, wistra 2003, 100 (102); v. 12.11.1986, 3 StR 405/86, wistra 1987, 147; Ransiek Kohlmann Steuerstrafrecht § 370 AO Rn. 87, 276; MünchKommStGB/ Schmitz/Wulf § 370 AO Rn. 282, 351; Seer Steuerrecht, § 23 Rn. 26.
A. § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt
33
Es gab und gibt bis heute vereinzelte Stimmen, die § 370 Abs. 1 AO als reines Pflichtdelikt interpretieren wollen.[1] Bei unterstellter Richtigkeit dieser Auffassung sowie einer strengen Anwendung der Tatherrschaftslehre im Sinne Roxins wäre das Tatherrschaftskriterium dann nicht das maßgebliche Kriterium, um Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der Steuerhinterziehung voneinander abzugrenzen.
Ursprünglich konnte sich diese Auffassung noch auf den Wortlaut des § 392 RAO 1931 stützen, der Steuerstraftaten für eine „Verletzung von Pflichten, die Steuergesetze im Interesse der Besteuerung auferlegen“, hielt.[2] Nach dem ersatzlosen Wegfall des § 392 RAO 1931 im Zuge des 2. AOStrafÄndG wurde diesem Argument jedoch die Grundlage entzogen.[3]
Heute wird der Versuch unternommen, diesen Ansatz auf ein neues Fundament zu stellen. Hierzu wird die Auffassung vertreten, dass das tatbestandliche Unrecht des § 370 Abs. 1 AO insgesamt in der Verletzung einer steuerlichen Mitwirkungspflicht gesehen werden und daher § 370 Abs. 1 AO vollständig als Pflichtdelikt interpretiert werden müsse.[4] Gedanklicher Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass es im Rahmen der Abgrenzung zwischen einer Steuerhinterziehung durch aktives Tun und einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen zu – zum Teil unüberbrückbaren – Abgrenzungsschwierigkeiten komme. Diese könnten nur dann vermieden werden, wenn § 370 Abs. 1 AO einheitlich als Pflichtdelikt interpretiert werde.[5]
Читать дальше