Hinsichtlich der Unterlassungsdelikteist zu beachten, dass nach h.M. nur die tatsächlichen Umstände, die die Handlungspflicht begründen,[196] nicht aber die Handlungspflicht Tatbestandsmerkmal ist, so dass sich der Irrtum über die Pflichtwidrigkeit nicht auf den Vorsatz auswirkt, sondern allenfalls einen die Schuld betreffenden Gebotsirrtum darstellt.[197] Dies soll daraus resultieren, dass die Handlungspflicht letztlich eine Rechtsfolgeder Umstände ist, die den Tatbestand bilden. Zweifel sind auch an diesem Ansatz angebracht, weil man die Handlungspflicht als Teil des Tatbestandes wird betrachten müssen.
2. Verbotsirrtum (§ 17 StGB, § 11 OWiG)
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Im Verbotsirrtum handelt, wer ihm bei Begehung der Tat die Einsicht fehlte, Unrecht (§ 17 StGB) bzw. etwas Unerlaubtes (§ 11 Abs. 2 OWiG) zu tun. Die Rechtsfolge dieses Irrtums ist bei Unvermeidbarkeitdas Entfallen der Schuld und damit Straflosigkeit des Verhaltens, bei Vermeidbarkeiteine fakultative Strafmilderung i.S.d. § 49 StGB.
a) Voraussetzungen des Verbotsirrtums
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Ein Verbotsirrtum nach h.M. ist nicht bereits gegeben, wenn der Täter die Ge- oder Verbots vorschrift nicht kennt,[198] sondern erst dann, wenn er es nicht einmal für möglich hält,[199] dass er materiell Unrecht verwirklicht bzw. in verbotener Weise handelt;[200] er muss „nicht in rechtstechnischer Beurteilung, aber doch in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Bewertung, das Unrechtmäßige seiner Tat erkennen“. [201] Wissen um die Strafbarkeit des Handelns ist mithin nicht erforderlich,[202] die Kenntnis um dessen moralische Verwerflichkeit steht dem Verbotsirrtum aber auch nicht entgegen.[203] Das Unrechtsbewusstsein, das einen Bezug zum Tatbestand aufweisen muss, ist teilbar,[204] so dass bei tateinheitlich begangenen Taten hinsichtlich jeder einzelnen Gesetzesverletzung ein Irrtum hinsichtlich des Unrechtsgehalts dieser Tat vorliegen kann.[205]
b) Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums
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Der Verbotsirrtum führt zur Schuld- und damit zur Straflosigkeit der Tat, wenn der Irrtum vermeidbar war (§ 17 S. 1 StGB, § 11 Abs. 2 OWiG). Vermeidbarkeitist gegeben, wenn der Täter nach den ihm nach den Umständen des Einzelfalls und unter Berücksichtigung seines Lebens- und Berufskreises zuzumutenden „gehörigen Anspannung des Gewissens“ [206] in der Lage war, das Unrecht bzw. die Verbotenheit der Tat zu erkennen.[207] An diese Gewissensanspannung sind im Hinblick auf die besondere Stellung und Verantwortung im Lebensmittelverkehr strenge Anforderungen zu stellen.[208] Die Vermeidbarkeit besteht aus einem objektiven Element der Sorgfaltund einem subjektiven Element der gehörigen Gewissenanspannung.[209] Dabei übersteigen die Anforderungen an diese Anspannung des Gewissens die gebotene Sorgfalt,[210] denn geboten ist der Einsatz „aller geistigen Erkenntniskräfte“ .[211] Auftretende Zweifel muss der Unternehmer ausräumen und dazu ggf. sachkundige Auskünfte einholen.[212] Allerdings relativiert der EuGH die schuldausschließende Wirkung des Rechtsrats stark.[213] Die wirtschaftliche Bedeutung der Entscheidung, über die der Täter irrt, ist wegen der hohen Verantwortung des Unternehmers für das Maß der Sorgfalt und der Gewissensanspannung prinzipiell irrelevant.[214] Es ist vielmehr maßgebend, wie grundlegend und offensichtlich der Irrtum ist, so dass z.B. Irrtümer in Bezug auf das Basiswissen über Hygiene grundsätzlich vermeidbar sind.[215]
aa) Fehlende Kenntnis der lebensmittelrechtlichen Vorschriften und der Verbrauchererwartung
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Nach der Judikatur gilt der Grundsatz, dass fehlende Rechtskenntnisse des Lebensmittelunternehmers zwar einen Ge- oder Verbotsirrtumbegründen können, dieser aber vermeidbarist.[216] Lebensmittelunternehmer haben die Pflicht, sich stets über die ihr Gewerbe betreffenden rechtlichen Vorgaben sowie über relevante Verbrauchererwartungen und Verkehrsauffassungen[217] zu informieren und sich dabei alle verfügbaren Quellen (z.B. Fachzeitschriften, Informationsveranstaltungen)[218] zu Nutze zu machen.[219] Jedoch sind bei der Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln Irrtümer oft schwer vermeidbar.[220]
bb) Einholung von Auskünften
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Bei Zweifeln über ein Verbot darf sich der Unternehmer nicht allein auf sein eigenes Urteil verlassen.[221] Vielmehr muss er behördlichenoder verlässlichen (dazu Rn. 88) anwaltlichen Rateinholen.[222] Dies gilt insbesondere bei neu eingeführten Vorschriften,[223] oder wenn sich ein Unternehmer über einen Handelsbrauch hinwegsetzen will.[224] Als ausreichend dürfen regelmäßig verbindliche Auskünfte der zuständigen Behörden[225] – nicht aber schon eine Duldung des fraglichen Handelns[226] – angesehen werden,[227] soweit diesen bei der Beurteilung alle relevanten Informationen vorlagen und nicht erkennbar war, dass diese nur unzureichend verwertet worden sind.[228] Gleiches dürfte für die Auskunft eines in lebensmittelrechtlichen Fragen erfahrenen Rechtsanwalts gelten,[229] nicht aber ohne weiteres für den Rat anderer Rechtskundiger[230] oder für Auskünfte von eher interessengeleiteten Berufsverbänden.[231]
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Im Allgemeinen darf ein Rechtsunkundiger auf Auskünfte eines Rechtsanwaltsvertrauen, soweit er diesen als kompetent angesehen hat, und die Unerlaubtheit des Tuns nicht „bei auch nur mäßiger Anspannung von Verstand und Gewissen leicht erkennbar“ gewesen wäre.[232] Der Lebensmittelunternehmer hat bei der Auswahl der Auskunftsperson besondere Sorgfalt walten zu lassen.[233] Bestehen nach der anwaltlichen Auskunft noch Unsicherheiten, so muss er die Auskunft der zuständigen Behördeeinholen und bei verbliebenen Unklarheiten auch erneut nachfragen.[234] Macht sich der Unternehmer die für ihn günstigste Rechtsansicht zu eigen, um zu einem für ihn günstigen Urteil zu gelangen, obwohl ihm dargelegt wurde, dass unterschiedliche Auffassungen vertretbar sind, so ist der Irrtum vermeidbar.[235] Dem Unternehmer darf die unterlassene Auskunftseinholung nach mittlerweile h.M.[236] jedoch nur vorgehalten werden, wenn die Auskunft zur Beseitigung des Irrtums geführt hätte, also bei sorgfältigem Handeln eine zutreffende Auskunft erteilt worden wäre; es muss also zwischen der unterlassenen Auskunftseinholung und dem Fortbestehen des Irrtums ein Vermeidbarkeitszusammenhangbestehen.[237]
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Die Vermeidbarkeit kann auch auf einer Sorgfaltspflichtverletzung beruhen, so wenn der Unternehmer infolge mangelnder Fortbildungein Rechtsproblem, das aufzuklären gewesen wäre, nicht erkannt hat.[238] Er darf zudem nicht blind darauf vertrauen, dass eine Person, die im Unternehmen das Lebensmittelrecht unmittelbar anzuwenden hat, dieses auch tatsächlich beachtet.[239]
cc) Vertrauen auf günstige Gerichtsentscheidungen
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Der Unternehmer darf sich auf für ihn günstige Gerichtsentscheidungen zur Begründung der Unvermeidbarkeit grundsätzlich berufen, wenn es sich um ein höchstrichterliches[240] oder zumindest um ein nicht ernsthaft in Frage gestelltes rechtskräftiges Urteilhandelt.[241] Ob er die Entscheidung bei Tatbegehung tatsächlich gekannt haben muss,[242] um sich darauf berufen zu können, ist streitig, im Ergebnis aber zu verneinen, da es am Vermeidbarkeitszusammenhang fehlen dürfte, wenn dem Täter die ihm günstige Judikatur lediglich unbekannt, die Entscheidung aber bereits ergangen war.[243]
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