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Nach einer verbreiteten Ansicht[122] sollen solche Rückverweisungsklauseln aufgrund der praktischen Notwendigkeit, dem Gesetzgeber „das atemlose Nacheilen“ zu ersparen und die nach Art. 17 Abs. 2 UAbs. 3 BasisVO gebotene zeitnahe und effektive Straf- und Bußgeldbewehrungdurch flexiblere Normgebung im Wege von Rechtsverordnungen sicherzustellen, zulässig sein.[123] Durch die Entsprechungsklauseln, die absichern, dass nur ein Handeln mit Sanktion bedroht wird, das nach geltendem Recht bereits als sanktionswürdig angesehen wird, werde den verfassungsrechtlichen Vorgaben genüge getan.
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Fraglos erhöhen Rückverweisungsvorschriften die Bestimmtheit der Strafvorschriften, jedoch weisen sie die grundsätzliche Entscheidung über die Strafbarkeit – im Falle der Verweisung auf nur materielle Verbote der Exekutive sogar über die Verhaltensnorm als solche – dem Verordnungsgeber zu. Er wird ermächtigt zu entscheiden, ob eine unmittelbar geltende EG- bzw. EU-Verordnung mit einer strafrechtlichen Sanktion zu bewehren ist und inhaltlich einer nationalen strafbewehrten Regelung entspricht. Damit trifft aber der Verordnungsgeber die Grundsatzentscheidung über die Strafbarkeit.[124] Insofern umgehen Regelungen wie die in § 62 Abs. 1 LFGB getroffene, die die Entscheidung über das Ob der Strafbarkeit in die Hand der Verwaltungsbehörde legen, sowohl die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips(Art. 103 Abs. 2 GG) als auch der Wesentlichkeitsrechtsprechungdes BVerfG[125] und sind deshalb ebenso verfassungswidrigwie Vorschriften, die den nationalen Verordnungsgeber ermächtigen, innerhalb eines bestimmten Rahmens zur Durchsetzung unionsrechtlicher Ge- und Verbote durch Rückverweisungen die Strafbarkeit zu begründen.[126] Ferner werden gegen die Rückverweisungsklausel berechtigte Bedenken im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz erhoben.[127]
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Dementsprechend hat das BVerfG[128] auch den sehr offen und vage formulierten § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG wegen mangelnder Bestimmtheit auf Vorlage des LG Berlin[129] für verfassungswidrig erklärt. Darüber hinaus hat das LG Stade auch § 58 Abs. 3 LFGB mit seiner deutlich spezifischeren Formulierung dem BVerfG nach Art. 100 GG wegen Verfassungswidrigkeit vorgelegt.[130] Angesichts dieser Probleme stellt sich die Frage, ob das deutsche System des Lebensmittelstrafrechts noch zeitgemäß ist[131] und den Vorgaben des nationalen und europäischen Verfassungsrechts entspricht.[132]
2. Ausgestaltung als potenzielle Gefährdungsdelikte
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Die lebensmittelstrafrechtlichen Tatbestände umschreiben abstrakte Gefährdungsdelikte.[133] Einige Strafvorschriften setzen jedoch voraus, dass die durch die Tat verursachte Situation bei genereller Betrachtung gefahrgeeignet sein muss; es handelt sich hierbei um sog. potenzielle Gefährdungsdelikte(Eignungsdelikte;[134] Rn. 191 f.).[135] Die Regelbeispielein § 58 Abs. 5 Nr. 1 und 2 LFGB, die allein die Strafzumessung betreffen, erfordern jeweils den Eintritt einer konkreten Gefahr.
3. Sanktionierung von Verboten mit Genehmigungsvorbehalt und von vollziehbaren Anordnungen
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Einige Vorschriften des LFGB normieren Verbote mit Genehmigungsvorbehalt. Soweit das Verhalten genehmigt ist, hängt die strafrechtliche Wirkung von der Reichweite der Genehmigung ab, denn das Erfordernis der behördlichen Genehmigung hat zur Folge, dass das Strafrecht an die formelle Bestandskraft von Verwaltungsakten geknüpft ist;[136] es entsteht eine Akzessorietät des Sanktionstatbestandes, so dass eine Strafbarkeit in dem Umfang ausscheidet, den die Genehmigung abdeckt.[137]
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Vergleichbares gilt, wenn die Strafbarkeit von dem Zuwiderhandeln gegeneine vollziehbare Anordnungabhängt (vgl. § 59 Abs. 1 Nr. 20 und 21, § 60 Abs. 2 Nr. 26 LFGB). Auch setzt die Erfüllung des Sanktionstatbestandes einen hinreichend bestimmten Inhalt und die Wirksamkeit des Verwaltungsaktes voraus.[138]
IV. Tathandlungen im Lebensmittelstrafrecht
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Das Lebensmittelstrafrecht soll den Verbraucher vor dem Kontakt mit Lebensmitteln schützen, die bestimmte Rechtsgüter oder Interessen ( Rn. 25 ff.) gefährden können. Aufgrund des europarechtlich vorgegebenen hohen Schutzniveaus sind die lebensmittelrechtlichen Verbote und die sie in Bezug nehmenden Sanktionsvorschriften nicht auf den letzten Schritt in der Herstellungs- und Handelskette beschränkt, sondern betreffen auch vorgelagerte und sonstige als gefährlich eingestufte Handlungen. Die Tathandlungen des Lebensmittelstrafrechts können grundsätzlich auch durch Unterlassen(etwa durch den Amtstierarzt) begangen werden, soweit die allgemeinen Voraussetzungen des § 13 StGB erfüllt sind.[139]
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§ 3 Nr. 1 LFGB verweist für den Begriff des Inverkehrbringensauf Art. 3 Nr. 8 BasisVO. Dort wird das Inverkehrbringen als „Bereithalten von Lebensmitteln oder Futtermitteln für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, gleichgültig, ob unentgeltlich oder nicht, sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst“ legaldefiniert. Zwar gilt die Definition des Art. 3 Nr. 8 BasisVO nur im Hinblick auf Lebensmittel und Futtermittel. Jedoch hat der Gesetzgeber die generelle Geltung dieser Legaldefinition in § 3 Nr. 1 LFGB ausdrücklich angeordnet.[140]
2. Herstellen und Behandeln von Lebensmitteln
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Nach der Legaldefinition des § 3 Nr. 2 LFGB bedeutet Herstellen „das Gewinnen, einschließlich des Schlachtens oder Erlegens lebender Tiere, deren Fleisch als Lebensmittel zu dienen bestimmt ist, das Herstellen, das Zubereiten, das Be- und Verarbeiten und das Mischen“ . Der Herstellungsbegriff umfasst alle Entwicklungs-, Herstellungs- und Verarbeitungsschritte, von der Primärproduktion, dem Be- und Verarbeiten, Mischen und Verpacken bis hin zur Abnahme des Enderzeugnisses als letztem Herstellungsakt vor dem Vorrätighalten zum Verkauf oder anderweitigem Inverkehrbringen;[141] eine exakte Abgrenzung der verschiedenen Stufen erübrigt sich.[142] Unter Gewinneni.S.d. § 7 LFGB wird die sog. Urproduktion pflanzlicher und tierischer Erzeugnisse einschließlich des Fischfangs verstanden.[143] Herstellen (im engeren Sinne)ist jedes Einwirken auf die Substanz eines Erzeugnisses durch Be- oder Verarbeiten mittels menschlicher oder maschineller Tätigkeit.[144] Zubereitenist – als Unterfall des Herstellens – jede handwerks-, fabrik- oder küchenmäßige Bearbeitung, die das Lebensmittel für den Verzehr geeignet oder haltbar macht,[145] z.B. Schälen, Zerkleinern, Kochen, Rösten, Backen, Braten.[146] Weitere Unterfälle des Herstellens sind das Bearbeiten, unter das alle Herstellungsschritte fallen, um die Beschaffenheit in einer Weise zu modifizieren,[147] die sensorische Merkmale eines Lebensmittels, seine Konsistenz oder sonstige Beschaffenheit beeinflusst,[148] sowie das Verarbeiten, das jedes Herstellen eines neuen Erzeugnisses unter Verwendung eines oder mehrerer Stoffe umfasst.[149]
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Das Behandelnwird in § 3 Nr. 3 LFGB als „das Wiegen, Messen, Um- und Abfüllen, Stempeln, Bedrucken, Verpacken, Kühlen, Gefrieren, Tiefgefrieren, Auftauen, Lagern, Aufbewahren, Befördern sowie jede sonstige Tätigkeit, die nicht als Herstellen oder Inverkehrbringen anzusehen ist“ , umschrieben. Das Behandeln umfasst damit als Auffangbegriff eine Reihe von Tätigkeiten, die nicht unter das Herstellen, Inverkehrbringen oder Verzehren fallen.[150]
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